Über ihre Initiative Karlsruhe-gegen-Sexkauf wird Psychotherapeutin Ingeborg Kraus derzeit häufig mit den Bordellplänen in der Ottostraße in Verbindung gebracht. Dabei sei nicht der Stand das Problem, sondern das Vorhaben an sich, erklärt die Karlsruherin. Als Therapeutin steht Kraus regelmäßig mit derzeitigen und ehemaligen Prostituierten in Kontakt.
Sexuelle Gewalt
"Bordelle sind immer problematisch, denn hinter ihren Türen finden keine sexuellen Dienstleistungen statt", meint die Therapeutin. Es seien auch keine Vergnügungsstätten oder Freudenhäuser - nach Ansicht der Expertin gänzlich falsche Bezeichnungen. Entsprechend setzt sich Kraus auch gegen ein mögliches Bordell in der Ottostraße ein.

"Diese Begriffe stammen von den Profiteuren des Systems, das heißt von Zuhältern, Menschenhändlern und Bordellbetreiber", meint Kraus. "In solchen Etablissements findet auch keine Sexarbeit statt, sondern sexuelle Gewalt"

Demnach sei nach Kraus der Begriff "Vergewaltigungsstätten" zutreffender. "Jede Frau in der Prostitution weiß, dass das keine Arbeit ist. Eine Arbeit ist etwas anderes. Eine Arbeit kommt auch der Gesellschaft zu Gute, das tut Prostitution in keiner Weise. Es handelt sich hier um sexuelle Gewalt gegen Bezahlung", sagt sie.
"Es geht zur Arbeit - unter Tränen"
Um die Umstände zu skizzieren, berichtet die Therapeutin von ihren Gesprächen mit einer ehemaligen Patientin - anonym versteht sich: "Ich hatte eine Frau in Therapie, die über 30 Jahre als Köchin in einem Bordell arbeitete. Sie hat gesagt: Heute werden diese jungen Frauen aus Rumänien, Bulgarien und sonst woher von ihren Zuhältern hergeschleppt." Das hat mit dem geläufigen Weg zur Arbeit wenig gemein.

Die Frauen kämen zumeist aus europäischen Armutsländern - und hätten keine Wahl, meint die Therapeutin. "Und dabei ist es recht zynisch zu behaupten: Immerhin haben sie so einen Job und genügend Geld. Diese Arbeit als gemeinen Job zu verkaufen ist schlichtweg falsch." Diese Ansicht sei nach Einschätzung der Expertin ein massiver Rückschritt, ebenso wie sämtliche Versuche, das System der Prostitution zu rechtfertigen.

Die Frauen reisten oft mit nicht mehr als einer Plastiktüte voller Kleinigkeiten aus Osteuropa an, meint Kraus. "Und dann geht es zur Arbeit - unter Tränen." Trösten dürfe man sie nicht, erklärt die Therapeutin. Dazu werde das weitere Bordell-Personal explizit angehalten. "Und nach ein paar Tagen sind die Mädchen dann verstummt. Das ist die Realität."
Einzige Fluchtmöglichkeit: Verdrängung
Um mit der Situation umzugehen, bleibt den Frauen nur die Verdrängung der Erlebnisse. "Natürlich hat jede Frau in dem Gewerbe einen gewissen Bewusstseinsgrad darüber, was mit ihr passiert", sagt Kraus. Doch um funktionsfähig zu bleiben, müsse vieles ausgeblendet werden.

"Dafür gibt es unterschiedliche Levels. Der Körper oder Körperteile werden ausgeschaltet", so die Therapeutin. Als Erstes sei dabei der Geruchssinn betroffen. "Man sagt ja auch: Ich kann ihn riechen. Also wenn jemand sympathisch ist, dann kann man ihn gut riechen. Aber wenn man alles von einem Menschen ablehnt, ihn nicht an sich haben will, aber muss, dann muss der Geruchssinn ausgeschaltet werden - denn darüber wird die absolute Ablehnung ausgelöst. Und das geschieht bei allen."
Überlebensmechanismus
Diese Folgen seien unter Umständen irreversibel - also permanent. "Sie fühlen nichts mehr. Gewisse Funktionen bleiben erhalten, wie z. B. Lächeln und auf Stöckelschuhen rumlaufen. Die Dissoziation betrifft die Elemente, die es einem unmöglich machen würden, die geforderte Tätigkeit auszuüben. Das geht schnell schon nach den ersten Freiern", erklärt die Expertin.

Nach der Isolation des Erlebten folgt die Schaffung eines neuen Bedeutungskontexts: "Man muss auch das neu definieren, was einem da gerade passiert. Wenn man sagt: Ich werde da gerade vergewaltigt, dann geht das nicht. Also sagen sie, es ist Sexarbeit, um es ausüben zu können", so die Therapeutin. Das gehöre alles mit zur Verdrängung - als "ein Trauma-Überlebensmechanismus."
Sexualität der Frauen zerstört
Die schwerwiegenden Folgen der traumatischen Erlebnisse wirkten sich auch auf das Privatleben der Frauen aus, erklärt Kraus. "Eine Frau berichtete mir über ihre Beziehung, die sie auch während ihrer Zeit als Prostituierte zu pflegen versuchte. Auch nach ihrem Ausstieg hatte sie einen Partner, aber: Sobald sie wieder sexuell aktiv werden wollte, kippte ein Schalter um. Dann war das nur noch 'Arbeit am Mann'."

Selbst nach dem Ausstieg sei die ehemalige Prostituierte sofort in einen empfindungslosen Modus übergegangen, berichtet die Therapeutin. "Ihre Sexualität ist nachhaltig negativ beeinträchtigt." Das Erreichen von etwaiger "Normalität im Sexualleben" hänge dann von vielen Faktoren ab - unter anderem von der persönlichen Vorgeschichte der Frauen.
Der Rutsch in die Prostitution
In vielen Fällen sei eine sexuelle Vortraumatisierung der Grund für den Rutsch in die Prostitution, meint Kraus. Die Rede ist von "sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend." Prostitution sei dann die Fortsetzung dieser Umstände, meint die Therapeutin. "Viele sagen: Das war ganz normal für mich. Wenigstens habe ich Geld dafür bekommen. Das ist dann allerdings dennoch keine Freiwilligkeit, sondern die Fortsetzung von schwerer Gewalt."

Darüber hinaus spiele die Dauer, die man im Prostitutionsgewerbe tätig gewesen sei, eine entscheidende Rolle, erklärt Kraus. Auch wenn die Frauen bereits ausgestiegen wären. Dieser Faktor entscheide unter anderem, "ob man ein neues Leben aufbauen kann und ob man liebevolle Partner findet", meint die Traumatherapeutin.
Aussteigerinnen: "Glauben nicht mehr an Männer"
"Viele sagen mir: Ich glaub nicht mehr an Männer - das sind alles triebgesteuerte Schweine. Denn sie haben alles dort erlebt. Katholische Priester, natürlich verheiratete Männer und Familienväter mit tollen Partnerinnen."

Ein normaler Alltag sei für die Frauen nach den traumatischen Erlebnissen nahezu unmöglich, meint Kraus. "Es gibt keine Rückkehr zur 'Normalität' in dem Sinne. So ist es häufig bei Traumata. Viele denken, ja, dann mach eine Traumatherapie, dann bist du wieder okay wie früher. Nein!" Die Erfahrungen veränderten die Frauen grundsätzlich und nachhaltig, erklärt die Expertin.
"Aufgeklärter als wir"
Unter anderem ist dafür verantwortlich, dass die Betroffenen eine Seite der Gesellschaft erblickt haben, die so schnell nicht ungesehen wird: "Diese Menschen haben einen Einblick bekommen, den Viele niemals erhalten. Also sind sie ein Stück aufgeklärter als wir", sagt Kraus.

An diesem Punkt setzt die Therapeutin auch außerhalb ihrer Praxis an und macht unter anderem über die Initiative "Karlsruhe-gegen-Sexkauf" auf die Umstände im Rotlichtmilieu aufmerksam. "Ich möchte das den Menschen mit meiner Arbeit vor Augen führen. Prostitution wird von der Gesellschaft abgespalten", meint die Karlsruherin. Denn: "Man will nicht wissen, was dort wirklich passiert."
Verantwortung übernehmen
In der Verantwortung etwas zu ändern, sieht Kraus die Kunden von Bordells und Prostitution. "Sexkäufer müssen wissen, dass sie die Verursacher eines immensen Problems sind. Eine Frau zu kaufen, um die eigene Sexualität an ihr auszuüben, ist eine Vergewaltigung", so die Therapeutin. Das sei ein Umstand, der mit keinem Geld der Welt gut zu machen sei.

"Es bleibt ein unerwünschter Sexualakt für die Frau. Die wollen das nicht. Wenn das Geld nicht auf dem Tisch liegen würde, würden sie sagen: Finger weg!", erklärt Kraus weiter. Nach Ansicht der Expertin handle es sich trotz 'Tauschgeschäft' um keinen konsensualen Sex.

"Wenn es kein emotionaler Konsens ist, dann ist es eine sexuelle Gewalt. Das muss jeder Sexkäufer wissen", so die Therapeutin. "Man kann sagen, eine Frau zu kaufen, um die eigene Sexualität an ihr auszuüben, ist eine bezahlte Vergewaltigung."
"Alles ist hemmungsloser geworden"
Dennoch werde Männern weiter das Gegenteil angedeutet, meint Kraus. "2002 wurde es legalisiert, normalisiert und dadurch der Gesellschaft und den Männern signalisiert: Es ist ok, es ist Sexarbeit, also nur eine Dienstleistung, auf die ihr Anspruch haben dürft." Im Zuge dessen sinke die Hemmschwelle gegenüber den Frauen rapide weiter, erklärt die Fachfrau.

Dies berichteten der Therapeutin auch ihre Kontakte aus der Rotlichtbranche. "Nachdem das Gesetz verabschiedet wurde, sagten sie: Die Besucher haben sich sofort verändert - auch in Hinsicht der geforderten Sexpraktiken. Alles ist hemmungsloser geworden und dadurch auch die Gewalt", erklärt sie.
Die Grenzen zwischen Legalität und Illegalität verschwimmen an diesem Punkt zunehmend. Einher mit Prostitution gehe der zunehmende Menschenhandel, sagt Kraus. "Wenn es keine Freier geben würde, dann gäbe es auch keinen Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung - und das ist ein enormes Problem."
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