Im Kanalweg 115 erinnert heute nichts mehr an die schrecklichen Ereignisse des 4. Juli 2012. Auf den Tag genau vor einem Jahr kam es hier in einer Dachgeschosswohnung des Mehrfamilienhauses zu einem Drama, wie es Karlsruhe in den letzten Jahrzehnten nicht gesehen hat.
Geiselnahme in Karlsruhe: Wohnung im Kanalweg wieder bewohnt
Bei einer Zwangsräumung brachte ein 53-jähriger Mann, der Lebensgefährte der Wohnungseigentümerin, drei Geiseln in seine Gewalt - einen Schlosser, einen Gerichtsvollzieher und einen Sozialarbeiter der Stadt Karlsruhe. Während der Täter den Sozialarbeiter frei ließ, nahm er den inzwischen zur Wohnung gekommenen neuen Wohnungs-Besitzer als weitere Geisel. Noch auf seiner Flucht hörte der Sozialarbeiter fünf Schüsse - der Geiselnehmer tötete die drei Geiseln, seine Lebensgefährtin und schließlich sich selbst.
Noch heute ist das Motiv des Täters nicht vollständig geklärt - und wird es wohl auch nie werden. Deutschlandweit sorgte die tödliche Geiselnahme für Entsetzen. Heute, 365 Tage später, scheint die Wohnung in der Karlsruher Nordstadt wieder bewohnt, alle Klingelschilder des Mehrfamilienhauses sind mit Namen versehen. Wo sich zum Zeitpunkt des schrecklichen Dramas hunderte Polizisten, Sondereinsatzkommandos, Rettungsteams, TV-Teams und zahllose Journalisten aus ganz Deutschland versammelten, ist es wieder ruhig und beschaulich.
Doch so normal die Situation in der Nordstadt oberflächlich auch zu sein scheint, der Schock sitzt in Karlsruhe am ersten Jahrestag der Tragödie noch tief. Wie die Stadt Karlsruhe in einer Pressemeldung mitteilt, wird auf Wunsch von Oberbürgermeister Frank Mentrup mit einer Trauerbeflaggung den Opfern des 4. Juli gedacht. Und auch beim Amtsgericht Karlsruhe, von wo aus der Gerichtsvollzieher im vergangenen Jahr zu der Zwangsräumung in der Nordstadt entsandt wurde, sind die Nachwehen der Ereignisse noch deutlich zu spüren, wie Gerichtspräsident Jörg Müller im Gespräch mit ka-news erläutert.
Nach Geiseldrama in Karlsruhe: gestiegenes Bewusstsein zur Selbstschutz
Direkt nach der Geiselnahme standen die Kollegen des getöteten Gerichtsvollziehers unter Schock, so Müller. "Zwei erfahrene Traumapsychologen boten Gruppengespräche und auf Wunsch auch Einzelgespräche an. Das war sehr hilfreich", erinnert sich der Präsident des Karlsruher Amtsgerichts. "Die Kollegen haben dies sehr unterschiedlich verarbeitet. Einige waren dem Opfer sehr nahe, das wirkt natürlich lange nach."
Ein Jahr nach der Bluttat herrsche zwar wieder Alltag im Gericht und unter den Gerichtsvollziehern, die tragischen Ereignisse seien aber dauernd ein Thema - besonders zum anstehenden Jahrestag. Hier gedenken die Gerichtsvollzieher ihrem verstorbenen Kollegen und den anderen Opfern, unter anderem bei einem Treffen der Betroffenen mit Oberbürgermeister Frank Mentrup. Seit der Geiselnahme im Kanalweg registriert Müller bei seinen Mitarbeitern ein gestiegenes Bewusstsein zur "Eigensicherung", erklärt er im Gespräch mit ka-news. Nicht zuletzt zeige dies eine Checkliste, die der Karlsruher Obergerichtsvollzieher Josef Weigel zur Sicherheit bei Zwangsräumungen erstellt hat.
Im Rahmen eines landesweiten Sicherheitsprogramms sei diese Liste auch allen Beamten in Baden-Württemberg zugänglich, so Müller. In dieser Checkliste soll bei "nachrichtenlosen Räumungen" - also bei solchen, bei denen von Seiten des Schuldners keine Antwort kommt - eine mögliche Gefahr abgeschätzt werden. Die Gerichtsvollzieher sollen in einem solchen Fall bei der Polizei nachfragen, welche Erkenntnisse über den Schuldner vorliegen, ob eventuell noch jemand anderes in der Wohnung oder dem Haus lebt und ob es Auffälligkeiten zu Gewaltdelikten oder Waffenbesitz gibt, so Müller.
Eine "nachrichtenlose Räumung" seit dem 4. Juli 2012
Die zuständigen Hausverwaltungen sollen zudem den Vollziehern im Rahmen des Datenschutzes Informationen geben, ob die Person auffällig aggressiv und täglich anzutreffen sei oder wie das Verhältnis zu den Nachbarn ist. Auch an zunächst unwichtige Informationen, wie ein Gasanschluss, der eventuell manipuliert werden könnte, erinnert die Checkliste. "Was unter den datenschutzrechtlichen Bestimmungen möglich ist, versuchen wir in Erfahrung zu bringen", ergänzt der Präsident des Amtsgerichts. Fälle, bei denen ein Schuldner "x-mal angeschrieben wird und sich nicht rührt", gebe es nämlich durchaus öfter.
Allerdings sei am 4. Juli 2012 zum ersten Mal der Fall eingetreten, dass die betroffene Person unvermittelt die Türe öffnete. "Meistens sind die Wohnungen zugemüllt oder komplett leer, wenn wir räumen sollen. Aber dann ist kein Mensch mehr da", sagt Müller. Dass der Täter dann mit "bereiter Waffe" eine solche Tat vollzog, sei um so tragischer. Bei Zwangsräumungen vor Ort seit der Bluttat sei die Schwelle daher gesunken, Amtshilfe durch die Polizei zu bestellen. Zudem gingen die Gerichtsvollzieher noch vorsichtiger zu Werke. Für den Schuldner soll nur noch der Vollzieher selbst zu sehen sein, Sozialarbeiter, Schlosser und andere Personen sollen sich im Hintergrund halten, so Müller.
Komme es dann doch zu einer Gefahrensituation, wurden zur Warnung verschiedene Alarmsysteme erarbeitet. Sei ein Schuldner dann anwesend, werde er gebeten aus der Wohnung herauszukommen. Seit dem 4. Juli kam es zu einer "nachrichtenlosen Räumung", so Müller. Die Wohnung war leer. Vorsichtshalber wurden aber vorher Informationen anhand der Checkliste eingeholt. "Das wird jetzt immer so gemacht", sagt Müller weiter, auch wenn ein solches Vorgehen die Ausnahme sei, denn meist würden diese Fälle bereits auf dem Briefweg geklärt. Eine absolute Sicherheit wird es für Gerichtsvollzieher aber kaum geben - trotz der verstärkten Sicherheitsvorkehrungen.
183.000 Euro wurden bislang gespendet
Wenige Tage nach der tödlichen Geiselnahme erfuhren die Betroffenen eine Welle der Solidarität. Der damalige Oberbürgermeister Heinz Fenrich hatte die Aktion "Karlsruhe hilft" wieder ins Leben gerufen, zudem wurde im Rathaus ein Kondolenzbuch ausgelegt.Nur gut zwei Wochen später gingen bereits über 108.000 Euro Spenden ein. Wie die Stadt nun mitteilt, sind ein Jahr nach der Bluttat insgesamt rund 183.000 Euro eingegangen - weit über 2.000 Einzelspenden erreichten die Verwaltung.
Für die Hinterbliebenen der Opfer kann weiterhin gespendet werden, so die Stadt (Sparkasse Karlsruhe Ettlingen, Bankleitzahl 660 501 01, Kontonummer 10 80 77777). Soweit die Spenden nicht mit einer Zweckbestimmung versehen sind, werden sie in gleichen Anteilen an Kinder und Ehegatten oder Lebenspartner ausbezahlt.
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