Im Jahr 2015 sah die Gründerin des Karlsruher Kinderhilfswerks Uneson, Jasmin Sahin. zum ersten Mal das Elend, das Geflüchtete in einem Zeltlager erwartet, mit eigenen Augen. "Damals stand ein Bierzelt auf dem Uneson-Gelände. Dort mussten 1.600 Menschen auf engstem Raum in mehrstöckigen Feldbetten hausen. Manche über mehrere Wochen - und damals herrschte keine Pandemie", sagt sie im Gespräch mit ka-news.de.

Nun, knapp sieben Jahre später, ist sie wieder für Geflüchtete im Einsatz - diesmal in der Ukraine. "Ein wenig konnte ich dennoch auf meine Erfahrungen von damals zurückgreifen und war zumindest ansatzweise auf den Anblick der ukrainischen Flüchtlinge und deren Leid gewappnet. Genau gesagt betraf das drei der insgesamt sechs Leute, die am 4. März ehrenamtlich mit den Hilfsgütern an die polnisch-ukrainische Grenze gefahren sind. Die anderen drei habe ich versucht zu briefen, aber ich glaube, man muss es selbst erlebt haben, um es zu verstehen. Wir alle kamen verändert von dieser etwas chaotischen Fahrt nach Hause."
"Wir haben jede Hand gebraucht"
Doch bevor überhaupt die Transporter gen Osten starten konnten, blieb die Logistik nicht ohne Probleme: "Wir hatten drei Transporter, die von je zwei Personen gefahren werden sollten. Am Donnerstag um 18 Uhr wollten wir los und am Samstagabend zurück sein - dabei wollten wir die gespendeten Güter liefern und verschiedene Familien mit nach Karlsruhe nehmen, die hier Freunde haben. Leider hat sich einer unserer Fahrer kurz zuvor mit Corona infiziert", so Sahin.
Daraufhin sei eine weit verzweigte Telefonkette ausgebrochen. "Wir brauchten durch diese Erkrankung einen neuen Fahrer und einen neuen Transporter, da das Fahrzeug dem erkrankten Helfer gehört. Es hat also jeder jeden angerufen und nach Hilfe gefragt. Wir haben jede Hand gebraucht. Nicht nur wegen der Fahrt selbst, auch zum Neu-Sortieren der Sachspenden und zum Beladen. Manche haben auch noch etwas zu essen für die Helfer mitgebracht. Am Ende hatten wir aber gewaltiges Glück."

Eine polnischstämmige Bekannte Sahins sei sehr kurzfristig als Fahrerin eingesprungen und habe sogar noch mehr Hilfsgüter organisieren können. "Kurz darauf erhielt ich eine Nachricht, dass Stadtmobil Karlsruhe uns einen Transporter anbietet - und das, obwohl eigentlich all ihre Fahrzeuge ausgebucht waren. Sie vermieteten uns einen Laster außerhalb des Sortiments, nur damit wir helfen konnten. Dank ihnen konnte es endlich losgehen."
"Schnee und Panzer auf den Straßen"
Nach einem etwas holprigen Start sei die Kolonne aus humanitären Transportern also über Nacht durch Polen gezogen. Die Befürchtung, die Straßen könnten von anderen Hilfsorganisationen verstopft sein, bewahrheitete sich nicht. Dafür waren die Autobahnen laut Sahin aber gänzlich anders vereinnahmt. "Überall lag Schnee, es war furchtbar kalt in dieser Nacht. Und wir konnten ständig sehen, wie schweres Kriegsgerät in dieselbe Richtung fuhr wie wir", erzählt die Helferin im Gespräch mit ka-news.de.

Panzer, Raketentransporte und Militärfahrzeuge seien in regelmäßigen Abschnitten durch die verschneiten Straßen gen Ukraine gefahren. "Wenn man so etwas mit ansieht, wird einem schon ganz anders", erklärt sie. "Frühlingshaft wie hier war die Stimmung dort ganz und gar nicht." Aufgrund der Verkehrssituation sei die Kolonne auch schnell voneinander getrennt worden.

"Wir kamen zu unterschiedlichen Zeiten an", so Sahin. "Mein Transporter erreichte das Gebiet um die polnische Grenzstadt Korczowa, wo das Flüchtlingslager liegt, knapp zweieinhalb Stunden nach den beiden anderen. Und dort wartete schon das nächste Problem auf uns."
Sechs Stunden warten aufgrund von Präsident Duda
Der Grund: Gerade als die Uneson-Helfer aus Karlsruhe im Flüchtlingscamp eintrafen, war die Grenze gesperrt. "Der polnische Präsident Andrzej Duda war bei unserer Ankunft gerade auf einem Pressetermin an der Grenze. Entsprechend wurde uns nicht mehr erlaubt, sie zu überschreiten - auch nicht ins Flüchtlingslager. Wir mussten sechs Stunden warten, bis Duda das Grenzgebiet verließ und wir mussten auf ein anderes Lager ausweichen." Dann aber haben die Hilfsgüter endlich ihren Weg zu den Kriegsflüchtlingen gefunden.
"Es waren sehr viele Eindrücke auf einmal, als wir in den Lagern ankamen. Überall sahen wir unsere Kollegen - Hilfsorganisationen aus ganz Europa, von Deutschland, Holland und Frankreich über Italien. Dann betraten wir die Hallen, in denen die angekommenen Kriegsflüchtlinge aufgenommen werden."
"Man fragt sich wirklich, warum es uns so gut geht"
Sahin selbst sah sich nach eigenen Angaben beim Anblick der Feldbetten auf engstem Raum, beim Anblick der traurigen und verängstigten Augen und beim Anblick von Menschen, die alles durch einen Krieg verloren haben, stark an das Jahr 2015 erinnert. "All die dicht an dicht gedrängten Menschen fürchteten um ihre Zukunft. Zwischen den Betten huschten Hunde, Katzen, Hasen und andere Haustiere umher, die überhastet mitgenommen wurden", erklärt sie.

"Solche Eindrücke lösen etwas im Menschen aus. Wir alle, gerade die, die so etwas noch nicht erlebt haben, fragten sich wirklich, warum es uns hier so gut geht." Ganz ohne Lichtblick sei die Situation aber auch nicht geblieben: "Die polnische Regierung, die die Hallen betreibt, ist top organisiert. Es wurden überall Essen, Getränke und Tee ausgegeben. Und die Leute wurden namentlich ausgerufen, um in verschiedenen Bussen in ihr Fluchtgebiet gebracht zu werden."

Auch die mitgebrachten Hilfsgüter wurden beim Ausladen bestens versorgt. "Was wir in die Ukraine mitgenommen haben, war auch für die Ukraine bestimmt", erklärt Sahin. ""Alle Hilfsgüter werden letztendlich in Krisengebiete verfrachtet um den Menschen zu helfen, die mit Versorgungsengpässen zu kämpfen haben. Entsprechend wurde auch alles, was wir mitgebracht haben, eingelagert und streng bewacht. Und die Leute dort haben sich wirklich dankbar gezeigt. Wir wurden mehrmals gefragt, wann wir wiederkommen."

Wenn Corona zur Nebensache wird
Kaum vorstellbar: Corona-Sicherheitsbestimmungen seien in dem Flüchtlingslager dabei nur Nebensache gewesen, eine Maske habe keiner im Camp getragen. "Als wir ausgeladen haben, wollten wir uns und die Flüchtlinge, die mit uns kommen sollten, noch einmal testen lassen", so die Gründerin von Uneson. "Ich bin also in ein medizinisches Zelt gegangen und habe nach Tests gefragt, aber dort wussten sie überhaupt nicht, wovon ich rede."

Sahin weiter: "Die Frau hat die Arme ausgebreitet, meinte zu mir: 'Sehen Sie sich um. Wir haben hier ganz andere Probleme als Corona.' Also haben wir unsere eigenen Schnelltests benutzt." Für die Helfer hieß es nun: Abschied nehmen. Doch es soll kein Abschied auf ewig sein.
Und wie geht es jetzt weiter?
Denn: Auch wenn die Hilfsfahrt ursprünglich als einmalige Aktion geplant gewesen sei - " als wir aber gemeinsam mit den Flüchtenden zurück in die Transporter stiegen, war uns eigentlich schon klar, dass wir die Aktion häufiger wiederholen wollen", sagt Sahin gegenüber ka-news.de.
Die Uneson-Helfer sind am Abend des 6. März wieder in Karlsruhe angekommen. Doch nach dem Erlebten habe sich ihr Blickwinkel auf die Situation allerdings verschoben. "Besonders diejenigen, die 2015 nicht miterlebt haben, konnten mehrere Tage nicht schlafen. Also beschlossen wir, das ganze Projekt noch professioneller aufzuziehen", erklärt Sahin.
Der Informant aus Kiew
"Zuvor wurden alle Sachspenden, wenn auch katalogisiert, in der Kindertagesstätte von Uneson gelagert. Das ist keine dauerhafte Lösung", meint die Uneson-Gründerin. "Aber dank Bekannten eines Helfers haben wir nun kostenlos ein Büro für die Lagerung und die Koordination zur Verfügung gestellt bekommen."
So wollen sie künftig einmal pro Woche an die Grenzen fahren, Sachspenden liefern und gegebenenfalls auch Flüchtlinge mitnehmen. Einen festen Rhythmus habe man aber noch nicht festgelegt. "Wir stehen mittlerweile mit einem Informanten aus Kiew in Verbindung. Er teilt uns mit, wann und wo an den Grenzen sich die Ströme an Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine sammeln", erklärt die Nothelferin.

"Ich bin überwältigt von so viel Hilfsbereitschaft"
Damit diesen Menschen auch geholfen werden kann, benötige Uneson aber vor allem Hilfe von außen. "Natürlich brauchen wir immer Geldspenden, auch für die nun steigenden Spritpreise und die in Massen doch sehr teuren Antigen-Schnelltests. Sachspenden sind mindestens ebenso vital. Wovon wir momentan aber auch nie genug haben können, sind Helfer, die Uneson ehrenamtlich unterstützen", so Sahin.
Auf die Frage, ob sie nicht fürchte, dass die Spenden nach kurzer Zeit versiegen könnten, verneint Sahin: "Man muss sich nur all die Leute ansehen, die uns auf der ersten Fahrt geholfen haben. Es gibt so viele Karlsruher, die die Ukraine nicht im Stich lassen wollen - als Mitglied der ehrenamtlichen Organisation weiß ich da gar nicht, wie ich ihnen danken soll. Ich bin überwältigt von so viel Hilfsbereitschaft."
Hinweis: Kommentare geben nicht die Meinung von ka-news wieder. Der Kommentarbereich wird 7 Tage nach Publikationsdatum geschlossen. Bitte beachten Sie die Kommentarregeln und unsere Netiquette!