Bis zum Schluss habe wohl fast niemand erwartet, dass das russische Militär wirklich in die Ukraine einmarschieren würde - auch nicht die ukrainisch stämmige ka-news.de-Fotografin Irina Wentz und ihre Familie.  "Seit 1996 lebe ich nun in Deutschland, arbeite hier und habe einen deutschen Mann geheiratet, 2018 die Staatsbürgerschaft angenommen. Aber ich habe immer noch engen Kontakt zu meiner ukrainischen Heimatstadt Pryluky gehalten. Ganz besonders jetzt, wo sich das Land im Krieg befindet."

Irina Wentz, Kernphysikerin und Fotografin, gebürtig in der Ukraine.
Irina Wentz, Kernphysikerin und ehemalige ka-news.de-Fotografin, gebürtig in der Ukraine. | Bild: Bernhard Urbanek

Pryluky, so erklärt Wentz, sei eine kleine Stadt 150 Kilometer östlich der Hauptstadt Kiew. Sie sei in ihrer Größe in etwa mit Rastatt zu vergleichen. Doch auch in kleinen Städten habe die Zerstörungswut eines frisch ausgebrochenen Krieges mittlerweile Einzug gehalten. "Meine Mutter lebt noch immer dort, genauso mein Bruder mit seiner Familie", so Wentz. Und für diese Familie sei eine furchtbare und unberechenbare Zeit angebrochen.

"Meine Mutter verlässt das Haus auch im Krieg nicht mehr"

"Mein Bruder ist Lkw-Fahrer für ein litauisches Unternehmen. Als Putins Truppen die Grenzen überschritten haben, war er gerade in England. Natürlich wollte er sofort zurück, um seiner Familie Beistand zu leisten, doch die Einreise wurde ihm bei Kriegsausbruch nicht mehr erlaubt. Er konnte seiner Frau, seinem Sohn und seiner Tochter also seit dem Kriegsbeginn nicht wiedersehen", so Wentz.

Im Luftschutzbunker.
Im Luftschutzbunker. | Bild: Irina Wentz

"Genauso wenig ist es momentan möglich, dem Kriegsgebiet zu entfliehen. Meine Schwägerin, meine Nichte und meine Mutter sind derzeit innerhalb der Stadt gefangen - der Großteil der Menschen dort hat sich mittlerweile in Luftschutzbunkern verschanzt. Nur meine Mutter blieb im Haus der Familie. Sie ist 81 und weigert sich, das Haus noch zu verlassen. Wie viele ältere Leute bleibt sie lieber, wo sie ist, statt sich den Bedingungen des Luftschutzbunkers auszusetzen."

"Die Nächte sind das Schlimmste"

Diese Bedingungen seien für Menschen, die Friedenszeiten gewohnt sind, nur schwer vorstellbar. "Der Bunker ist kalt, stickig, dunkel und überfüllt. Und dort verbringen die Menschen den größten Teil des Tages und der Nacht und lauschen den Erschütterungen des Krieges - mit jeder davon kommt die Todesangst. Meine Schwägerin hat mir erzählt in der Nacht wäre es am schlimmsten. Dort würde am meisten und am heftigsten geschossen und bombardiert werden." Wirkliche Nachtruhe sei der Zivilbevölkerung also auch nicht vergönnt.

Im Luftschutzbunker.
Im Luftschutzbunker. | Bild: Irina Wentz

"Am meisten Sorgen mache ich mir um meine 16-jährige Nichte", erklärt Wentz. "Gerade für Kinder muss so etwas schrecklich sein. Sie kann nicht raus, ist den ganzen Tag im Bunker und kann nur versuchen, sich abzulenken. Für Kinder könnte dieser Krieg ein furchtbares Trauma bedeuten." Erst zum Morgengrauen hin, werde es besser. "Morgens wird weniger geschossen, sodass man sich zumindest ein wenig um die Versorgung kümmern kann."

"Die Lebensmittelversorgung ist noch stabil"

Supermärkte und Lebensmittelläden seien nämlich noch immer geöffnet. "Abgesehen vom Einkaufen ist Pryluky - wahrscheinlich die ganze Ukraine - völlig leer gefegt. Die Straßen werden fast nur von Soldaten und Patrouillen betreten und die Fenster bleiben dunkel und werden zugeklebt. Zumindest die Lebensmittelversorgung ist so weit noch stabil. Sobald der Vorrat aber zur Neige geht, wird der Nachschub ein Problem, das ist jedem klar. Bei der Tiernahrung gibt es schon den ein oder anderen Engpass", sagt Wentz.

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Was andere Waren angeht, beteiligten sich einige Supermärkte sogar am Kriegsgeschehen. "Manche Supermärkte haben den Preis für Streichhölzer verdreifacht. Andere geben sie direkt kostenlos raus. Wofür - das dürfte jedem klar sein, denke ich. Außerdem gibt es eine Website innerhalb Prylukys, die dazu da ist, verschiedene Waren auszutauschen und sich untereinander zu helfen." Die digitale Kommunikation sei bisher nämlich nicht eingebrochen - so konnte die Fotografin auch Kontakt zu ihrer Familie halten.

An Flucht ist nicht zu denken

Ob sie die Familie womöglich auch zu sich holen könnte, das sei derzeit eher unwahrscheinlich. "Mein Neffe befindet sich schon auf der Flucht, hat aber kaum Chancen, die Ukraine zu verlassen", erklärt Wentz. "Er arbeitet als IT-Spezialist für eine britische Firma und hat auch ein Arbeitsvisum in England. Deshalb wollte er mit seiner Freundin und deren Eltern dorthin fliehen. Allerdings wurde er an der ungarischen Grenze aufgehalten, da Männer unter 60 zur Mobilisierung gegen Russland aufgerufen wurden."

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Wie es nun für ihn weitergehe, wisse Wentz nicht mit Sicherheit. "Aber auch der Rest der Familie ist in den Luftschutzbunkern oder den eigenen vier Wänden gefangen. Der Flugverkehr wurde schon am ersten Tag eingestellt und über die Straßen zu fliehen ist zu gefährlich. Viel zu viel Kriegsmaschinerie und viel zu viele flächendeckende Angriffe der russischen Streitkräfte. Und das obwohl Pryluky als recht grenznahe Stadt niemals Probleme mit Russen hatte."

"Meine Großmutter war Russin"

Der Bevölkerung - den Menschen Russlands gebe die Deutsch-Ukrainerin nämlich keine Schuld an diesem Krieg. "Ich möchte die Russen nicht über einen Kamm scheren. Wir hatten in der Familie immer einen guten Draht nach Russland. Meine Großmutter war Russin und wir haben noch immer Verwandte in Moskau. Umso unvorstellbarer ist es für uns, dass Russland wirklich angegriffen hat", so Wentz. 

Ein Bild, das um die Welt ging: Der zerstörte Fernsehturm von Kiew.
Ein Bild, das um die Welt ging: Der zerstörte Fernsehturm von Kiew. | Bild: Irina Wentz

Umgekehrt habe sich das Familienverhältnis deutlich verschlechtert. "Unsere Moskauer Verwandten haben jeden Kontakt zu uns abgebrochen, nachdem Putin 2014 die Krim annektiert hat. Ich kann es mir nur so erklären, dass sie, wie sehr viele Menschen in Russland stark indoktriniert wurden. Die Krim war auch ein Hauptgrund, warum ich mich für die deutsche Staatsbürgerschaft entschied. Um meiner Familie im Falle von einem Angriff Putins hierher holen zu können - denn dieser Mann muss völlig wahnsinnig sein."