Die Abschaffung der verpflichtenden Grundschulempfehlung war ein Einschnitt in Baden-Württembergs Bildungslandschaft. Zwei Jahre ist es nun her, seitdem Eltern erstmals allein über die Zukunft ihres Kindes entscheiden durften.
Kritiker befürchteten schon damals eine gefährliche Verwechslung von Wunsch und Wirklichkeit, von Anspruchshaltung und tatsächlichem Leistungsvermögen des Kindes. Nun, zwei Jahre später, scheint sich diese Befürchtung zu bewahrheiten.
Fast 60 Prozent aller Karlsruher Schüler aufs Gymnasium
Denn Zahlen des statistischen Landesamtes belegen: Seit der Reform bleiben sowohl auf den Gymnasien als auch auf den Realschülern mehr Schüler sitzen. Waren es auf den Gymnasien Baden-Württembergs 2011 noch 2,2 Prozent aller Schüler, die das Klassenziel verfehlten, waren es 2013 schon 2,4 Prozent. Noch deutlicher wird es auf den Realschulen des Landes: So waren 2011 noch 2,7 Prozent aller Realschüler sitzen geblieben, 2013 waren es schon 3,1 Prozent.
Zufall oder Folge vermehrter Nachwuchsüberschätzung? Julia Stoye, Sprecherin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Baden-Württemberg (GEW) geht von einer Verbindung der Zahlen mit der Reform aus: "Es ist davon auszugehen, dass ein Zusammenhang mit dem Wegfall der verbindlichen Grundschulempfehlungen besteht", sagt sie.
Vor allem die Haupt- und Werkrealschulen leider unter dem verstärkten Wunsch vieler Eltern, ihre Kinder entgegen der Empfehlung auf eine höhere Schulart zu schicken. Die Zahlen des Statistischen Landesamtes zeigen, dass im vergangenen Schuljahr nur 8,3 Prozent aller Karlsruher Grundschulabgänger auf die Hauptschule gegangen sind. Gleichzeitig steigt die Zahl der Realschüler (13/14: 23 Prozent) und Gymnasiasten (13/14: 59,6 Prozent) stetig an.
Christine Sattler, Sprecherin des Kultusministeriums Baden-Württemberg, erklärt auf Nachfrage von ka-news: "Bei den Haupt- und Werkrealschulen gibt es seit über einem Jahrzehnt einen starken Rückgang bei den Übergangszahlen von der Grundschule. Sie haben sich zwischen den Jahren 2001 und 2011 von rund 40.300 auf etwa 23.800 fast halbiert. Die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung hat diesen Trend lediglich verstärkt."
"Wir halten Sitzenbleiben für fragwürdig"
Die Hauptschulen kämpfen vielerorts schlicht um die Schüler, während im vergangen Schuljahr lediglich 57,3 Prozent aller Übergänger auf die Realschulen auch tatsächlich eine entsprechende Empfehlung hatten. Ein Problem sieht auch die GEW. Stoye erklärt: "Allein zwischen 2008 und 2012 wurden über 300 Haupt- und Werkrealschulen in Baden-Württemberg geschlossen, viele sind weiter in ihrem Bestand bedroht."
Dabei haben alle weiterführenden Schularten mehr und mehr mit einem zusätzlichen Problem zu kämpfen: "An den weiterführenden Schulen und insbesondere an den Realschulen ist seit Jahren eine zunehmende Heterogenität -also zum Beispiel zunehmend unterschiedliche Lernleistungen, Begabungen oder soziale Herkunft- zu verzeichnen", so Sattler weiter. Die Abschaffung der verbindlichen Empfehlung habe diese Entwicklung zwar nicht geschaffen - aber beschleunigt.
Was tun gegen die steigende Zahl der Sitzenbleiber? "Die Lehrer an den Grundschulen schätzen die Leistungsfähigkeit der Kinder in der Regel richtig ein. Ich kann den Eltern deshalb nur raten, die Empfehlungen ernst zu nehmen", wird Kultusminister Alexander Stoch (SPD) zitiert. Geht es nach der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, kommt es schon bald nicht mehr zum Sitzenbleiben: "Wir halten Sitzenbleiben für pädagogisch fragwürdig. Stattdessen braucht es bessere Bedingungen an den Schulen - dazu gehört auch mehr Zeit, damit die Lehrer den gestiegenen Herausforderungen gerecht werden können."
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