Ein Verdacht auf eine Weltkriegsbombe am Durlacher Tor - diese Nachricht versetzte Mitte Mai die Ost- und Teile der Innenstadt in gespannte Stimmung: Sollte sich der Verdacht bestätigen, müsste zur Entschärfung evakuiert werden. Wenige Tage folgte jedoch Entwarnung: Bei dem vermeintlichen Blindgänger handelte es sich um Überreste eines alten Brunnens. Eine Entschärfung durch die Sprengmeister des Kampfmittel-Beseitigungsdienstes (KMBD) Baden-Württemberg war nicht nötig.

Vor Ort waren die Experten aber dennoch. Denn zur Arbeit als Kampfmittel-Beseitiger gehört mehr, als nur Zünder aus Bomben zu entfernen, erklärt Mathias Peterle, stellvertretender Dienststellenleiter beim KMBD, im Gespräch mit ka-news.de. "Primär sind wir natürlich für die Gefahrenabwehr zuständig, aber wir beraten auch Bauherren bei Vorabuntersuchungen eines Baugeländes, ob sich eventuell noch Kampfmittel im Boden befinden."
Ein bis zwei Bombenfunde in Karlsruhe pro Jahr
In ganz Baden-Württemberg sind die Experten in drei Teams so nahezu täglich unterwegs. Sie machen dabei Luftbildaufnahmen und werten diese anschließend aus. Auf diese Weise wurde am 15. Mai auch die vermeintliche Bombe auf der KIT-Baustelle am Durlacher Tor entdeckt. "Karlsruhe hat im Zweiten Weltkrieg viel abbekommen. Ein bis zwei Bombenfunde im Jahr sind da schon möglich", sagt Peterle.

Sollte sich durch das Luftbild - oder auch durch einen Zufallsfund - ein Verdacht auf Kampfmittel ergeben, folgen weitere Beratungen durch den KMBD vor Ort. "Dabei wird der Fund genauer untersucht, etwa wie groß er ist und wie tief er liegt und - falls es sich tatsächlich als Bombe herausstellt- festgestellt, um welche Art es sich genau handelt", so Peterle.

Denn: Bombe ist nicht gleich Bombe. Auf die Art der Zünder kommt es an. "Es gibt Bomben mit mechanischen Aufschlagzündern und chemischen Langzeitzündern", erklärt Peterle. Wird ein Blindgänger mit Langzeitzünder gefunden, muss es schnell gehen: "Solche Bomben müssen sofort entschärft werden, hier spielt der Faktor Zeit eine große Rolle." Der Grund: Sie können jederzeit detonieren.
Besonders tödlich: Bomben mit chemischem Langzeitzünder
Die perfide Konstruktion dabei: Die Bombe wird durch Säure ausgelöst, die den Haltemechanismus des Zünders beim Aufschlag auf dem Boden durchfrisst. Das kann unterschiedlich schnell gehen - und die Bomben auch Stunden, Tage oder eben - sollte die chemische Reaktion ganz ausbleiben - auch Jahrzehnte nach dem Abwurf noch zur tödlichen Waffe machen.
"Durch die fortschreitende Korrosion und den Sauerstoffeinfluss beim Freilegen der Bombe kann es jederzeit zu einer Selbstdetonation kommen", sagt Mathias Peterle im Gespräch mit ka-news.de. Das heißt auch: Je länger die Sprengsätze mit chemischem Langzeitzünder in der Erde schlummern, desto gefährlicher und unberechenbarer werden sie.

Hinzu kommt ein integrierter Ausbauschutz: Wird versucht, den Zünder zu entfernen, geht die Bombe automatisch hoch. Die Entschärfung würde damit zur Lebensgefahr - und wird daher von speziellen Geräten erledigt. "Das heißt für uns: Gerät anbringen und schnell wieder weg von der Bombe", so Peterle. "Bei einer solchen Entschärfung ist man umso angespannter, aber auch umso erleichterter, wenn es geschafft ist."
"Schmaler Grat zwischen filigraner Technik und brachialer Gewalt"
Nur weniger riskant, verhält sich die Situation bei der Entschärfung von Bomben mit mechanischem Aufschlagzünder. Diese seien zwar an und für sich weniger gefährlich, da der Zünder - sollte er beim Aufschlag nicht funktioniert haben - auch Jahrzehnte später höchstwahrscheinlich keinen Schaden mehr anrichten kann.
"Mit der Entschärfung einer solchen Bombe kann man sich auch schon mal ein oder zwei Tage mehr Zeit lassen", erklärt Peterle. Aber: Bei dieser Bombenart muss der Sprengmeister die Zünder von Hand ausbauen - und damit während des gesamten Vorgangs direkt neben dem Blindgänger stehen. "Die Zünder können verrostet sein, dann muss man auch mal recht robust anpacken", so Peterle. "Aber grundsätzlich ist es ein schmaler Grat zwischen filigraner Technik und brachialer Gewalt."

Wenn er als stellvertretender Dienststellenleiter nicht gerade am Schreibtisch mit Papierkram zu tun hat, ist Mathias Peterle seit sechs Jahren als Truppführer selbst als Entschärfer in ganz Baden-Württemberg unterwegs. Schon zuvor war er beim KMBD tätig - in der Verwaltung in der Zentrale. "In den aktiven Dienst bin ich einfach so reingerutscht", erzählt er.
"Angst wäre der falsche Weg"
"Ich habe mir die notwendige Munitionskunde selbst beigebracht und von den erfahrenen Kollegen gelernt. Als ich dann die Möglichkeit bekam, bin ich in den technischen Bereich übergewechselt." Zwischen zehn bis 15 Kampfmittel hat der Feuerwerker - so die offizielle Berufsbezeichnung - seither selbst entschärft, bei 25 Entschärfungen war er zudem dabei. Eine Strichliste führt er nicht. "Es gibt Kollegen, die machen das, aber ich nicht", sagt er im Gespräch mit ka-news.de.

Auf die Frage, ob er bei solchen Einsätzen Angst verspürt, sagt Mathias Peterle ganz direkt: "Nein, das wäre auch der falsche Weg." Dennoch: Wenn ein Unfall während einer Entschärfung passiert, nehme das einen schon mit. "2010 gab es einen Unfall in Niedersachsen, bei dem zwei Kollegen tödlich und einer schwer verletzt wurde. Das war bestürzend, vor allem, weil wir uns untereinander kannten", so der stellvertretende KMBD-Leiter.
"Man darf nie Routine aufkommen lassen"
Das A und O daher: "Man darf nie Routine aufkommen lassen und muss immer im Hinterkopf behalten, was man gelernt hat - dann passiert zu 99,9 Prozent nichts. Man muss einen kühlen Kopf behalten und an jede Entschärfung so herangehen, als wäre es die erste." Peterle warnt zudem vor dem Irrglauben, dass die Kampfmittel nach 100 Jahren im Boden nicht mehr gefährlich sind. "Denn genau das Gegenteil ist der Fall - und solche Unfälle sind dann immer ein Weckruf für uns."

Aber mit dem Gedanken zur Arbeit fahren, dass jeder Tag der letzte sein könnte - "das wäre die falsche Herangehensweise", sagt Mathias Peterle. Von seiner Frau erhält der KMBD-Truppführer Unterstützung für seine Arbeit. "Sie hat mich schon so kennen gelernt, daher war das kein großes Problem."
Anders sah das zu Beginn seiner Karriere als Feuerwerker bei seinen Eltern aus: "Sie haben mich gefragt: 'Warum tust du dir das an und tauschst deinen sicheren Schreibtischjob ein?'", meint Peterle. "Aber ich wollte das Gelernte einfach praktisch umsetzen - deswegen bin ich jetzt aber nicht mutiger als andere."
900 bis 1.100 Munitionsfunde im Jahr
Das sollten auch nicht die Menschen sein, die zufällig auf Kampfmittel im Boden stoßen, warnt er. Das passiert vor allem im Frühling, wenn die Kleingärtner aktiv werden oder im Herbst, wenn die Pilzsammler unterwegs sind. "900 bis 1.100 Munitionsfunde werden uns jährlich durch Polizei, Landratsamt oder privat gemeldet", sagt Peterle. Davon sind aber nur wenige große Bombenfunde mit weiträumiger Evakuierung: 15 bis 25 Mal im Jahr müssen Bomben durch den KMBD entschärft werden.

Häufiger müssen die 24 Kollegen, die ständig im Außendienst unterwegs sind, Infanteriemunition einsammeln - teils mehrmals täglich. Alles Überbleibsel aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Für die Entschärfung von moderner Koffer- oder Rohrbomben hingegen ist das Landeskriminalamt (LKA) zuständig.
Wenn Hundespielzeug zum Kampfmittel wird
Wer ein Objekt findet, bei dem der Verdacht auf Kampfmittel besteht, sollte drei Dinge beachten: "Nicht in die Hand nehmen, ein Foto davon machen und die örtliche Polizeidienststelle informieren", sagt Mathias Peterle. Diese wiederum informiert dann den Kampfmittel-Beseitigungsdienst. "Wir schauen uns den Fund an und entscheiden dann, ob wir ihn sprengen oder entschärfen müssen."
Doch nicht nur Munition, Granaten oder Bomben werden den KMBD-Experten gemeldet: "Es waren auch schon Hunde-Kauspielzeug, Radkappen und Bremstrommeln darunter", sagt der Truppführer. In Bretten sorgte 2017 eine Zucchini für Fehlalarm.
Falsche Scheu, einen verdächtigen Gegenstand zu melden, sollten die Menschen aber nicht haben. "Wir nehmen jeden Anruf ernst. Lieber einmal zu viel anrufen als einmal zu wenig", meint Peterle.

Und das wird die Sprengmeister des KMBD noch eine ganze Weile beschäftigen, wie Mathias Peterle sagt. "In ganz Baden-Württemberg liegt noch sehr viel Munition im Boden - da haben wir noch locker die nächsten 40 Jahre zu tun."
ka-news.de-Hintergrund: Der Kampfmittel-Beseitigungsdienst Baden-Württemberg (KMBD)
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden zur Kampfmittelräumung des Landes von einzelnen Kreisen so genannte Sprengkommandos eingesetzt, die teilweise aus Nichtfachleuten zusammengesetzt waren. Ab August 1946 wurde die Zuständigkeit mit Genehmigung der Militärregierung an das Innenministerium übertragen. Heute ist das Regierungspräsidium Stuttgart (RP) zuständig. Der KMBD beschäftigt 34 Mitarbeiter. Sie setzen sich laut Webseite des RP zusammen aus neun Feuerwerkern, vier Munitionsvorarbeitern, zehn Munitionsarbeitern, zwei Mitarbeitern in der Waffenannahme, sechs Luftbildauswertern und drei Verwaltungsmitarbeitern. Die Kampfmittelbeseitigung selbst umfasst die Entschärfung und anschließende Beförderung geborgener Kampfmittel sowie die Vernichtung von Kampfmitteln einschließlich der Verwertung des dabei angefallenen Materials. Auch Vorabuntersuchungen von Baugrundstücken durch Luftbildaufnahmen gehört zum Aufgabengebiet des KMBD. Zwischen dem 12. August 1946 bis zum 31. Dezember 2018 konnte laut RP so 7.394.937 Kilogramm Munition geborgen und vernichtet werden. 24.587 Bomben wurden entschärft und ebenfalls vernichtet. Eine Fläche von 87.949.809 Quadratmetern konnte so systematisch von Munition befreit werden.