Drei Zimmer, Küche, Bad. Die Wohnung von Dirk Lion ist nicht besonders groß. Dennoch hat er beschlossen, zwei Geflüchteten ein Dach über dem Kopf zu bieten. Seit Ende Februar schläft das Paar in seinem Schlafzimmer, er hat es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht.
"Sie sind unglaublich dankbar", erzählt Lion im Gespräch mit ka-news.de. Er selbst ist kein aktives Vereinsmitglied bei der Flüchtlingshilfe, hat aber bereits während der Flüchtlingswelle 2015/2016 Erfahrungen sammeln können.
"Ich dachte, das kann nicht wahr sein"
Bevor die 24-Jährige und ihr 36-jähriger Lebensgefährte nach Deutschland und somit nach Karlsruhe kamen, lebten sie in einer Wohnung in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Sie arbeitete in einem Weinladen, er war als Salesmanager bei "Mars" angestellt. Am 24. Februar änderte sich jedoch alles. Andrey, der bei unserem Besuch mit Kate auf dem braunen Sofa in Dirks Wohnung sitzt, erinnert sich:

"Ich war auf einer Geschäftsreise und noch am Schlafen, als ich einen lauten Knall hörte. Ich schaute aus dem Fenster, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Ich habe dann versucht, wieder einzuschlafen. Doch dann bekam ich eine Nachricht, dass in verschiedenen ukrainischen Städten Explosionen stattgefunden hatten. Dann habe ich meinen Arbeitskollegen aufgeweckt und wir sind sofort ins Auto gestiegen und zurück nach Kiew gefahren."

Auch Kate wurde von den Explosionen an jenen Morgen aus dem Schlaf gerissen. "Ich dachte, das kann nicht wahr sein. Es kann doch kein Krieg sein. Ich hatte wirklich Angst, weil mein Freund nicht zuhause war. Später habe ich dann eine Nachricht erhalten, dass das Weingeschäft in dem ich arbeite zerstört wurde."
Flucht folgt bereits am nächsten Tag
Als Andrey wieder in Kiew ankommt sind die Angriffe auf die Stadt weiter vorangeschritten. Immer mehr Explosionen sind zu hören. Die Wohnung können sie darum am Folgetag auch nicht verlassen, verbringen die darauffolgende Nacht im Hausflur. Der Grund: Dort sind keine Fenster, die bei einer Erschütterung womöglich bersten könnten. Zusammen mit einigen Bekannten wird noch in dieser Nacht beschlossen, aus der Stadt zu flüchten.

"Wir wussten nicht, wohin wir gehen sollten. Wir wussten nur, wir müssen hier weg. Aber wegen der Sperrstunde konnten wir erst am nächsten Morgen, um 7 Uhr, ins Auto steigen und losfahren", berichtet Kate. Mit wenig Gepäck und ihren Reisedokumenten machen sie sich auf den Weg.
Inzwischen ist auch das Ziel bekannt: Die Reise soll über Ungarn, Polen, nach Berlin und dann nach Karlsruhe gehen. Denn: Einer der Mitreisenden hat Verbindungen zu einem Mitglied der Flüchtlingshilfe, der in Karlsruhe aktiv ist. Dieser kontaktiert wiederum den 34-jährigen Dirk Lion, der zuvor ein freies Zimmer bei der Stadt Karlsruhe gemeldet hatte.
Familie und Freunde werden zurückgelassen
Da der unfreiwillige Reisetrupp relativ früh aufbricht, ist die polnische Grenze auch noch nicht überfüllt. Die Überschreitung klappt ohne Probleme, sodass sie nach insgesamt 19 Stunden in Deutschland ankommen. Sofort werden sie von ehrenamtlichen Helfern in Empfang genommen. Erleichterung macht sich breit. Kurz darauf steigen sie bereits in den Zug in Richtung Karlsruhe, wo sie Lion in Empfang nimmt.

Doch jetzt kommt das große Aber: Nicht alle Familienmitglieder oder Freunde können oder wollen die Ukraine verlassen. "Meine Mutter wohnt in einem Haus in Sumy, das noch mein Großvater mit eigenen Händen gebaut hat, das möchte sie nicht aufgeben", erzählt Andrey. Täglich schreiben er und Kate mit ihren Familien und Freunden. "Die Handys klingeln quasi den ganzen Tag", berichtet Lion.
Andrey hatte hier Glück im Unglück. Wegen gesundheitlicher Probleme muss er nicht zur Waffe greifen, um sein Land zu verteidigen. Allerdings kann er mittlerweile zwei seiner Freunde nicht mehr erreichen. "Wir machen uns sehr große Sorgen und hoffen, dass es ihnen gut geht", sagt Andrey traurig.
"Es lässt mich nicht los"
In Karlsruhe angekommen, versucht Dirk ihnen so gut wie möglich einen angenehmen Aufenthalt zu bereiten. Miete müssen sie darum nicht bezahlen, denn: Dirk selbst möchte kein Geld von ihnen annehmen.
"Ich will dafür kein Geld haben, das spielt für mich keine Rolle. Aber die beiden sind sehr stolz und es fällt ihnen schwer, Hilfe anzunehmen. Ich habe selten jemanden gesehen, denen man die geistige und körperliche Verfassung so stark angesehen hat. Trotzdem strahlen sie eine unglaubliche Würde aus."

Dass auch die Psyche unter diesen Umständen gelitten hat bestätigt auch Kate im Gespräch mit ka-news.de. "Ich habe Albträume und sehe jeden Tag die Bilder von den zerstörten Städten. Mariupol existiert nicht mehr, Charkiw existiert nicht mehr. Es lässt mich nicht los", so die 24-Jährige. Wütender wirkt hingegen ihr Freund Andrey. "Sie haben mein friedliches Land angegriffen. Putin ist ein Tier."
Die Situation annehmen, die nächsten Schritte planen
Ob und wann die zwei wieder zurück in ihre Heimat können, ist weiterhin ungewiss. Fest steht: Sobald der Krieg vorbei ist, möchte das Paar wieder zurück in die Ukraine. "Ich sehe uns nicht als Flüchtlinge, sondern als Gäste", betont Andrey.
Bis es aber soweit ist, werden die beiden in Karlsruhe bleiben. Bald sogar in ihren eigenen vier Wänden, wie Dirk ka-news.de im Interview berichtet. Auch einen neuen Job für Kate habe er organisieren können.

"Ich merke, wie bei Andrey und Kate inzwischen ein psychologischer Shift stattgefunden hat. Am Anfang die Erschöpfung, dann eine ganz starke Dankbarkeit und nun das Ankommen, die Akzeptanz. Jetzt helfe ich ihnen, die nächsten Schritte zu planen. Ich denke, das ist das Schwierigste in einem neuen Land."
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