"Ich bin voll und ganz bei Karlsruhe: Es kann nicht sein, dass sich nur eine Stadt im Land bei der Flüchtlingsfrage so sehr bemüht", sagte die baden-württembergische Integrationsministerin Bilkay Öney bei der Veranstaltung. Sie setze sich für eine Entlastung des Karlsruher Standorts ein, die städtischen Notunterkünfte sollen zum Winter abgeschafft werden können.
Der Landtagsabgeordnete Johannes Stober hatte sich an die Ministerin mit der Bitte gewandt, eine zweite Landeserstaufnahmestelle in Baden-Württemberg einzurichten, nachdem im Juli der Ausbruch von Masern kurzfristig zur Schließung an der Durlacher Allee geführt hatte und gleichzeitig die Flüchtlingszahlen weiter anstiegen. Selbst die Notunterkünfte der Stadt waren daraufhin überlastet.
Abrücken vom System Abschreckung?
Nun wird der kleine Ort Meßstetten auf der schwäbischen Alb ab Oktober etwa 1.000 Asylbewerber in einer temporären Unterkunft aufnehmen - als Zwischenlösung. Öney erhofft sich davon eine spürbare Entlastung in Karlsruhe. Eine langfristige Erstaufnahme könnte auch in Mannheim Gleichzeitig räumte die Ministerin ein, dass es nicht einfach sei, Kommunen davon zu überzeugen, warum die Aufnahme von Flüchtlingen gut aber auch notwendig sei. Neben mehr Sachmitteln sind für die Karlsruher LEA außerdem 37 zusätzliche Stellen vorgesehen. Laut Öney mangelt es zur Zeit insbesondere noch an fremdsprachigem Personal, doch "das kann man nicht aus dem Hut zaubern". Auch auf die Häufung von minderjährigen, unbegleiteten Flüchtlingen wolle man reagieren.
"Die humanitäre Unterbringung muss Priorität haben", so die Ministerin im Hinblick auf die jüngsten Missbrauchsvorfälle in Einrichtungen Nordrhein-Westfalens. In einem aktuellen Maßnahmenkatalog "Neue Vorschläge für die Flüchtlingspolitik" lehnt die Karlsruher SPD deshalb Privatunternehmen als mögliche Partner beim Betrieb von Flüchtlingsheimen ab.
Stattdessen soll stärker mit Hilfsnetzwerken kooperiert und die Zivilgesellschaft weiter mobilisiert werden. Anstelle der reinen Unterbringung fordert das Papier die Integration von Flüchtlingen in die Gesellschaft und beschleunigte Asylverfahren. "Man kann uns sicher auch kritisieren, aber trotzdem denke ich, dass die rot-grüne Landesregierung vom System der Abschreckung endgültig abgerückt ist", so Öney.
"Wir werden weiter anpacken"
Auf Bundesebene verteidigte sie außerdem die jüngsten Änderungen im Asylrecht, wonach Flüchtlinge nun schon nach drei statt wie bisher neun Monaten eine Arbeit suchen und sich weniger eingeschränkt im Land bewegen dürfen. "Ich glaube, es werden gute Verbesserungen sein", so Öney. Sie verwies darauf, dass nach Schätzungen etwa ein Drittel der Flüchtlinge in Baden-Württemberg als Fachkräfte eingesetzt werden könnten. Hier erhofft sich die Ministerin in Zukunft Möglichkeiten zum Studium oder einer dualen Ausbildung. Gerade Flüchtlinge aus aktuellen Kriegsgebieten wie Syrien gehören oft zu einer gut ausgebildeten Mittelschicht. "Die hohen Flüchtlingszahlen sollten wir nicht mehr als Problem definieren", so der Karlsruher Bürgermeister Martin Lenz bei der Veranstaltung.
Im Vergleich zu den Balkankriegen in den 90er Jahren seien die jetzigen Konflikte großflächiger und langfristiger, er rechnet deshalb nicht mit einer baldigen Abnahme der Zahlen. Trotzdem sei es falsch, die Bevölkerung mit Schlagwörtern wie "Flüchtlingswelle" oder "-strom" zu verunsichern. Wie alle Anwesenden lobte Lenz die große Hilfs- und Spendenbereitschaft der Karlsruher Bürger. Die Flüchtlingshelfer in Mühlburg etwa seien beispielhaft für ein dauerhaftes Engagement. "Ich dachte früher, Flüchtlingspolitik könne nicht kommunalisiert werden. Jetzt ist es teilweise doch so gekommen, aber wir werden weiter anpacken - die Stadt gehört allen", sagte Lenz. In Karlsruhe ducke man sich nicht weg.
Hat Baden-Württemberg versagt?
Ein Ausdruck von Engagement war sicherlich die Gründung der "Flüchtlingshilfe Karlsruhe" - ein Netzwerk aus mehreren Verbänden wie Amnesty International, Migrationsbeirat und Caritas - nach der Notfallsituation der städtischen Unterkünfte im Sommer und Herbst 2014. Andrea Fischer von Amnesty International sprach bei der Veranstaltung am Donnerstagabend von zeitweise "menschenunwürdigen Bedingungen" und einem einem Mangel selbst an Grundversorgung. Durch die überwältigende Hilfe seitens der Bevölkerung habe man diese Situation allerdings überstanden.
"Wenn Bürger so schnell so viel schaffen, warum hat dann das Land Baden-Württemberg mit all seinen Institutionen und Mitteln versagt - zumindest in den ersten Wochen?", fragte Fischer. Diesen Eindruck einer nicht mehr gewährleisteten Grundversorgung im Land wies die Karlsruher Regierungspräsidentin Nicolette Kressl zurück, Defizite habe es aber gegeben. Oft habe nur noch die Vermeidung von Obdachlosigkeit im Vordergrund gestanden. Fischer von der Flüchtlingshilfe formulierte ihre Sicht zur zukünftigen Flüchtlingspolitik so: "Erwarten würde ich ein Dach über dem Kopf und etwas zu Essen, erhoffen würde ich die Chance, ein eigenes Leben in Deutschland aufzubauen."
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Dossier: Flüchtlinge in Karlsruhe