Es betrifft unsere Großeltern, dann unsere Eltern und schließlich auch uns selbst: Mit zunehmendem Alter sind wir auf Unterstützung und Pflege angewiesen. Aber: Immer häufiger wird in Deutschland vom sogenannten Pflegenotstand gesprochen.
Karlsruher werden immer älter
Pflegenotstand - konkret bedeutet der Begriff der Mangel an Pflegekräften für eine immer weiter steigende Zahl an Pflegebedürftigen. Auch in Karlsruhe ist die Problematik angekommen, denn: Auch in der Fächerstadt wird die Bevölkerung immer älter, wie auch im Rest von Deutschland. Das geht aus einem Bericht der Sozial- und Jugendbehörde der Stadt Karlsruhe zur Bedarfsentwicklung hervor.

Demnach geht die Stadt davon aus, dass Ende 2015 8.671 Pflegebedürftige in der Fächerstadt lebten, 280 mehr als noch 2013. Bis 2035 sei mit einem Anstieg von 7,9 Prozent auf dann 9.354 Pflegebedürftige im Vergleich zu 2015 zu rechnen. Der Bedarf wird also größer.
Quoten-Regelung fordert Mindestmaß an Fachpersonal
Neben der steigenden Überalterung der Gesellschaft steckt noch mehr dahinter, warum es zu wenig Pflegepersonal gibt: Seit 1993 gibt es eine gesetzliche Quoten-Regelung, die besagt, dass das Pflegepersonal immer zu 50 Prozent aus Fachkräften bestehen muss - mitunter ein Problem, wie Patrick Scholder, Leiter Soziale Dienste beim Arbeiter Samariter Bund (ASB) Karlsruhe, veranschaulicht.

"Angenommen, ich habe das gesetzlich erforderliche Personal. Ich brauche zehn Helfer und zehn Fachkräfte. Jetzt könnte sich der Leiter des Pflegeheims sagen: Okay, wir stellen noch eine Betreuungskraft ein. Da denkt jeder erst einmal: Okay super, wir haben mehr Personal und können noch mehr mit den Bewohnern machen", sagt er.
Ein Problem: Fehlende Anerkennung für den Beruf
Das bedeutet zwar mehr Personal, aber weniger als die Hälfte davon sind Fachkräfte. Und genau da wird es kompliziert, wie René Wenz, Leiter der Seniorenresidenz Am Park in der Südstadt-Ost erklärt: "Wenn ich zwei neue Helfer in der Pflege einstelle, muss ich gleichzeitig auch zwei neue Fachkräfte einstellen."
Eine Ursache der schwindenden Fachkräftezahl findet sich auch im fehlenden Nachwuchs, der sich wiederum mit der geringen Attraktivität des Berufs des Altenpflegers begründen lässt. "Er ist gesellschaftlich wenig angesehen und zum anderen sind die Arbeitsbedingungen manchmal hart", so Scholder. Sein Kollege René Wenz ergänzt: "Es kommt auch hinzu, dass die jungen Leute oft von den Feiertags- und Wochenenddiensten abgeschreckt werden."

Zudem wird dem Pflegeberuf gerne eine schlechte Bezahlung nachgesagt. Dem aber widerspricht Scholder: "Im Vergleich zu anderen Ausbildungsberufen steht die Pflege da nicht schlechter da. Es gibt sogar viele Möglichkeiten der Zulagen", meint er. "Außerdem gibt es mit Wohnbereichsleitung, Pflegedienstleitung oder Heimleitung auch viele Aufstiegsmöglichkeiten. Der Beruf hat also einiges zu bieten."
"Die Menschlichkeit ist nach wie vor ein großer Begriff"
Die Meinung teilt auch Riccardo Greco, ein junger Pflegedienstleiter der Seniorenresidenz Am Park. Seiner Ansicht nach fehle zwar im Pflegealltag manchmal die Zeit, um auch länger bei einem Bewohner am Bett zu sitzen und mit ihm zu sprechen, die Menschlichkeit leide darunter aber nicht: "Da bei uns hier im Haus jeder mit Herz und Seele dabei ist, ist die Menschlichkeit nach wie vor ein großer Begriff", so Greco.

Wenn keine Zeit für längere Gespräche ist, dann ist Kreativität gefragt. "Man holt sich zum Beispiel einen Ergotherapeuten oder einen Kollegen von der Beschäftigung, weil man als Pflegekraft jetzt einfach nicht die Zeit hat, um dem gerecht zu werden. Denn 'hintendran' warten auch noch andere Bewohner, die versorgt werden wollen", erklärt der junge Pfleger.
Kann ein neues Ausbildungsmodell helfen?
Um das in Zukunft zu vermeiden und den Fachkräftemangel zu bekämpfen, setzt Patrick Scholder auf ausländische Pflegekräfte: "Ohne eine Verstärkung in diesem Bereich, geht es nicht", sagt er. In den Pflegeeinrichtungen des ASB seien bereits ausländische Kräfte aus Südosteuropa, Südeuropa, China oder den Philippinen beschäftigt.

"Klar ist aber auch, dass es niemals die tragende Säule werden kann. Die Sprache ist in der Altenpflege wichtiger als in der Krankenpflege" meint der Leiter Soziale Dienste. "Bei uns geht es nicht um funktionstechnische Dinge, wie jemandem eine Spritze zu geben, sondern bei uns geht's um Beziehungsarbeit - und die lebt von der Kommunikation", betont Scholder. Die Zukunft sehe er daher eher in der Ausbildung.
Genau diese hat der Bund jetzt umstrukturiert. Ab 2020 greift ein neues Ausbildungsmodell. Scholder und der ASB befürchten dabei aber vor allem einen höheren Aufwand für die Einrichtungen. "Wir müssen mehr anleiten. Das ist alles sinnvoll und sehr gut gedacht. Aber es ist eine höhere Anforderung an uns als Einrichtung."

Die Auszubildenden rotieren künftig in allen drei Kernbereichen: Altenpflege, Krankenpflege und Kinderpflege. Der Beruf werde laut Patrick Scholder dadurch zwar aufgewertet, doch die Medaille hat eine zweite Seite: "Durch diese Rotation, dass es eben nur noch ein Berufsbild gibt, wird vermutlich noch weniger Personal in der Altenpflege bleiben, da im Krankenhaus die Verdienstmöglichkeiten einfach höher sind", so seine Befürchtung.
Viele gesetzliche Hürden
Problematisch sieht der Leiter Soziale Dienste vom ASB auch die Vorgaben in der Kurzzeitpflege: "Der Druck kommt von den Kassen und Krankenhäusern." Pflegeeinrichtungen müssen einige Kurzzeitpflegeplätze freihalten, was aber einen wirtschaftlicher Kraftakt bedeute. "Bei der Kurzzeitpflege sind nicht immer alle Zimmer belegt, weil die Zimmer freigehalten werden müssen", erläutert er.
Gesetzliche Hürden machen es den Pflegeheimen also in vielerlei Hinsicht schwer. Dazu zählt ebenso die im September in Kraft tretende Landesheimbauverordnung. Diese besagt, dass jeder Bewohner ein Recht auf ein Einzelzimmer hat. Wer ein Einzelzimmer haben möchte, soll auch eins bekommen.

"Das ist durchaus im Sinne der Menschen gedacht, kann bei kleineren Trägern allerdings dazu führen, dass sie Häuser nur noch schwer wirtschaftlich betreiben können und schließen müssen. Dann müssen sich 80 bis 90 Bewohner mit einem Mal nach einem neuen Zuhause umschauen", befürchtet Scholder.

Nach Aussage von Mariana Schlindwein vom Fachbereich "Sozialplanung für die ältere Generation" der Sozial- und Jugendbehörde der Stadt, gehe auch Karlsruhe für 2019 von einem Abbau von 183 Pflegeplätzen aus. Die Zahl der Pflegeheime sei nach einem Bericht der Stadt bereits von 45 (2015) auf 40 im Jahr 2018 gesunken.
Alternative Wohnformen - eine Möglichkeit?
Immer wichtiger werden daher inzwischen auch alternative Wohnformen wie Wohngemeinschaften oder Betreutes Wohnen. Denn zwei Drittel der Menschen werden außerhalb des Pflegeheims versorgt. Die Stadt Karlsruhe macht sich bereits Gedanken über die Unterstützung von ambulanter Pflege. "Es gibt bereits Entlastungsangebote", so Schlindwein.

Dabei seien vor allem bürgerschaftliches Engagement sowie soziale und kulturelle Teilhabe sehr wichtig. Deshalb fördert die Stadt Begegnungsstätten. Mariana Schlindwein erklärt: "Beim Pflegestützpunkt gibt es die Möglichkeit zur Beratung in allen Fragen, die sich um das Thema Hilfe und Pflegebedürftigkeit drehen. Diese Beratung zielt auch auf die Entlastung der Angehörigen."
Inzwischen wurde im Gemeinderat auch das Pilotprojekt "Innovative Pflege" ins Leben gerufen. "Es ist ein Projekt, dass die ambulante Pflege im Blick hat", erklärt Schlindwein. (Weitere Informationen zu diesem Pilotprojekt finden sich im ka-news Hintergrund)
"Offen über die Zukunft der Fachkraftquote sprechen"
Doch auch bei alternativen Wohnformen gibt es einen Haken: bezahlbaren Wohnraum: "Die Politik ist gefragt, sich darüber Gedanken zu machen, wie man Wohnen bezahlbar gestaltet. Erst muss ich wohnen, bevor ich gepflegt werde", meint Scholder und ergänzt: "Betreutes Wohnen ist kein Angebot für Geringverdiener."
Für die Zukunft wünscht sich Patrick Scholder von der Politik vor allem eines: mehr Ehrlichkeit. Es solle klar benannt werden, "dass wir ein Problem haben, die älteren Menschen zu versorgen. Wir werden künftig immer mehr Probleme haben, die 50 Prozent Fachkraftquote einzuhalten. Wir müssen also über Alternativmodelle nachdenken", sagt er.

"Man muss sich die Frage stellen: Kommen die Menschen ins Pflegeheim, um dort gepflegt zu werden oder um dort zu leben? Ich denke, in erster Linie ist letzteres der Fall. Daher muss man zumindest offen über die Zukunft der Fachkraftquote sprechen können", appelliert er abschließend.
Lesen Sie in Teil 2 der Reportage, wie Gisela Linder ein neues Zuhause in einem Pflegeheim fand - und warum es ihr so gut gefällt.
ka-news-Hintergrund
Das Pilotprojekt "Innovative Pflege" orientiert sich auf Bestreben der Sozial- und Jugendbehörde und in Absprache mit dem Gemeinderat am niederländischen Buurtzorg-Modell. Zunächst war dabei geplant, dieses ambulante Pflegemodell auch in Karlsruhe umzusetzen. Doch die Stadt kam zu dem Schluss, dass es unter anderem aufgrund nationaler Unterschiede in der Finanzierung nicht eins zu eins umsetzbar sei. Stattdessen soll nun ein Pilotprojekt "Innovative Pflege" von der Stadt gefördert werden, das sich an einzelnen Aspekten des Buurtzorg-Modells anlehnt.
Dabei soll unter anderem die Selbstbestimmung der Pflegebedürftigen und Selbstorganisation der Pflegekräfte gestärkt werden. Auch präventive Pflege ist ein Punkt. Zudem sollen die Selbstpflege-Fähigkeit trainiert und mit festen Pflegeteams für mehr Kontinuität gesorgt werden. Vier bis sechs Pflegekräfte werden hier in einem bestimmten Gebiet für die immer gleichen Pflegebedürftigen zuständig sein. Durch die Selbstorganisation soll auch die Pflegedienstleitung entlastet werden.
Geplant sind maximal zwei Projekte, die von zwei Trägern ausgeführt werden. Diese werden für maximal zwei Jahre mit 100.000 Euro pro Jahr bezuschusst. Im Moment läuft noch die Ausschreibung unter den Trägern. Laut Mariana Schlindwein soll die Vergabe in Kürze erfolgen.