ka-news:
Auf eurem aktuellen Album "Sylt" steht der Typ vom Balkon gegenüber plötzlich ganz alleine da. Keine aufmunternden Worte, wenig Wohltuendes, schon gar kein Überschwang. Woher rührt der Perspektivwechsel?
Marcus Wiebusch: Wir sind als Künstler natürlich daran interessiert, unsere Kunst offen und damit spannend zu halten. Es gab jetzt keine Initialzündung; außer der, dass wir ständig nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten und Erweiterung unseres Spektrums forschen. Wir sind innerhalb der Band ziemlich heterogen mit drei Songwritern - neben mir textet ja auch Reimer Bustorff, Erik Langer komponiert - und es hat uns in der Vergangenheit immer ein bisschen irritiert, dass Kettcar nur als diese gemütliche Band wahrgenommen wird, die romantische Songs wie "Balu" und "Nacht" geschrieben hat. Aber wir haben mehr drauf.
ka-news: Befindlichkeit weicht nüchterner Betrachtung der Dinge. Seid ihr fortgeschrittene Agnostiker?
Wiebusch: Die Atheisten sagen, dass es keinen Gott gibt; ich sage, es kann schon sein, dass es ihn gibt, er hat nur keinen Effekt auf mich. Das ist eine sehr nonchalante Herangehensweise, aber die für mich naheliegendste.
ka-news: Wie kam es, dass ihr diesmal mit gleich drei Produzenten zusammengearbeitet habt?
Wiebusch: Wir schreiben wie gesagt ziemlich heterogene Musik und waren dann damit konfrontiert, dass wir für jeden Song ein eigenes Sounddesign gebraucht haben. Das heißt: Aufbauen, abbauen, jedesmal alles neu machen. Und dann haben wir gesagt: Da können wir auch gleich das Studio und den Produzenten wechseln. Dazu kommt, dass es spannend ist mit neuen Leuten wie etwa Moses Schneider zu arbeiten, der immer nur live aufnimmt. Diese Erfahrung wollten wir unbedingt machen. Nicht zuletzt gibt auf der Platte eben Ausbrecher wie "Fake For Real“ und die haben ganz einfach Leute produziert, die diese Ausbrecher besser umsetzen können als eine klassische Kettcar-Nummer im Stile von "Nullsummenspiel". Da am Ende aber alles von einer Person gemischt wurde, nivellieren sich die Unterschiede. Und das macht das Album wiederum sehr kompakt.
ka-news: "Würde", "Geringfügig, befristet, raus", "Verraten" - Oden an die Geknickten und Gebrochenen. Warum singt ausgerechnet eine derart erfolgreiche Band wie Kettcar monothematisch über Looser?
Wiebusch: Monothematisch lass ich nicht gelten. Da ist zum Beispiel, der Typ, der voll von oben herab spricht: "Wir werden nie enttäuscht werden“. Und auch der Song "Wir müssen das nicht tun" räumt Auge in Auge damit auf, dass man eine Trennung immer nach dem gleichen Schema verarbeiten muss. Das sind allesamt keine Verlierer. Aber wenn du in eine Gesellschaft wie die unsere geworfen und mit diesen ganzen neoliberalen Zumutungen konfrontiert wirst, dann gibt es eben auch Leute, die hinter rüber kippen. Das wird oft nicht mitgedacht. Und wenn ich Songs schreibe, die davon handeln, dass Menschen mit diesem ständigen Druck, sich behaupten zu müssen nicht klar kommen und dann gebrochen und ausgebrannt mit 33 wieder zu ihren Eltern ziehen, dann ist das keine Sache, die ich mir einfach so ausdenke, sondern soziologische Erkenntnis. Und die bette ich ein in Geschichten. Das kann man jetzt traurig oder politisch nennen - es ist unser Weg zu zeigen, dass hier vielleicht nicht alles stimmt. Für uns kommt es derzeit jedenfalls nicht in Frage, auf romantisch überhöhte Weise die Liebe zu besingen.
ka-news: "Sylt", das moderne Atlantis und eine ganze Republik oder sogar ein ganzes System dem Untergang geweiht?
Wiebusch: Das könnte man sich jetzt natürlich im Nachhinein so schön reden. Aber wir wollten einfach einen kurzen, verstörenden Titel, der nichts mit dem Album zu tun hat. Es könnte ebenso gut auch Monaco heißen. Andererseits ist dieses Sylt auch ein unfassbar aufgeladener Begriff, so dass wir - auch ohne uns etwas dabei zu denken - alles richtig gemacht haben.
ka-news: Mit "Deiche" auf "Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen" gab’s den ersten politischen Song seit deine Vorgängerband But Alive Musikgeschichte ist. Ein Zitat von dir: "Als bekennender Linker seinen Weg in dieser Gesellschaft halbwegs aufrecht zu gehen, ist so kompliziert, dass ich keine leichten Antworten mehr finden kann." Hast du mit diesem Album wieder damit begonnen, Fragen zu stellen?
Wiebusch: Das würde ich schon sagen. Und vielleicht sind wir mit dem nächsten Album politischer als es But Alive je waren; vielleicht singe ich aber auch nur über Wiesen und Flüsse. Aber was heißt eigentlich politisch? Politik bedeutet für mich nichts anders als Forderungen zu stellen, um das Leben aller Menschen besser zu machen. Habe ich eine Forderung auf der Platte aufgestellt? Nein. Ich habe beklemmende, bittere Geschichten erzählt, aus denen man Forderungen ableiten könnte. Du siehst das schon politisch - könnte man auch. Aber ich tu mich da ein bisschen schwerer. Dass wir auf dem Anti-G8-Gipfel gespielt haben und außerhalb unserer Songs kritische, politische Menschen sind, das steht auf einem anderen Blatt.
ka-news: Und wie lebt es sich als bekennender Linker in Zeiten von Neoliberalismus, Globalisierung und Finanzkrise?
Wiebusch: Der Grundkonflikt eines jeden Linken ist doch, heutzutage keine Utopie mehr formuliert zu bekommen. Mit dem Fortschreiten der Globalisierung ist die Gesellschaft sehr unsolidarisch geworden. Man hat das Gefühl, es gibt keine Alternative zu dem bestehenden gesellschaftlichen System. Und das ist schwierig für mich.
ka-news: "Die Ideale, die sind alle geblieben; nur der Idealismus, der ist weg"?
Wiebusch: Das kann man jetzt von mir aus gerne sozialdemokratisch nennen, aber selbst kleinste Verbesserungen beeinfussen das Leben der Schwächeren positiv. Und deswegen lohnt es sich, weiter dafür zu kämpfen, dass es gerechter zugeht. Und dieses Denken ist und bleibt ein Teil von mir. Auch wenn ich mit 20 viel mehr gehofft und auch gekämpft habe für die Veränderung als ich das heute tue, trage ich immer noch die spürbare Sehnsucht in mir, dass wir alle gleich behandelt werden.
ka-news: Bis dato wart ihr ja immer die Jungs in den guten 30ern. Jetzt geht’s langsam in die 40er und deshalb musikalisch Richtung "Graceland"?
Wiebusch: Ich hinterfrage mich und mein Alter, wo ich mittlerweile stehe und ob ich mich vielleicht lächerlich mache. Und wenn ich in "Graceland" singe "Ich bin einer von ihnen, es gibt aber auch keine Alternativen", dann denke ich mich da ganz genau mit. Kuck mich an: Ich führe das Leben eines Jugendlichen; springe mit 40 immer noch auf irgendwelchen Bühnen rum. Aber es ist genau das Leben, das ich leben wollte als ich jünger war und ich sehe nicht ein, kleinbei zu geben, nur weil so ein konstruiertes Alter mir vorschreibt, dass das jetzt bitteschön aufhören sollte. Es ist ein hochkomplexes soziologisches Thema, das ich bei "Graceland" kurz umreiße: Die Kinder, die mit Popkultur aufgewachsen sind, also quasi popdurchtränkt sind, die ihre ganze Adoleszenz und ihr ganzes bisheriges Erwachsenendasein damit verbracht haben - warum sollen die plötzlich anders werden, wenn es sich doch gut und richtig anfühlt?
ka-news: Apropos gut anfühlen - warum spielt ihr eigentlich live keine der alten Songs mehr? Nimmt man das letzte But-Alive-Album "Hallo Endorphin" ist der Übergang vom Punk zum Pop und damit zu Kettcar doch kaum spürbar.
Wiebusch: Du hast vollkommen recht, wenn du sagst, dass der Bruch von der dritten zur vierten But-Alive-Platte größer war, als vom letzten But-Alive-Album zu Kettcar. Und Fakt ist auch, dass ich "Beste Waffe" oder "Vergiss den Quatsch" heute noch bringen könnte; im Gegensatz zu vielen vorherigen Nummern, die doch oft in einen gewissen Zeitgeist eingebettet sind. Aber das wäre auf der Bühne nur schwer zu kommunizieren und ich will den Leuten, denen die Band bis heute viel bedeutet, keinesfalls das Gefühl vermitteln, es würde von mir jemals wieder ein But-Alive-Song live gespielt. Das ist ein für allemal durch.
Was hätte er denn tun sollen - Marcus Wiebusch im ka-news-Interview