Schuldgefühle, Herzklopfen, Zittern und Schweißausbrüche: Schreckliche Unfälle lösen bei Straßenbahnfahrern häufig starke Reaktionen aus. "Einen Menschen zu überfahren ist das Schlimmste was einem Straßenbahnfahrer passieren kann", sagt Michael Schork, Koordinator des VBK-Krisenteams, im ka-news-Gespräch.
Bei einem Straßenbahnunfall benötigen nicht nur die Verletzten schnelle Hilfe, auch der Fahrer braucht rasche Unterstützung, so Schork. "Wir sind dazu da, die Fahrer nach einem Unfall zu betreuen, mit ihnen zu sprechen und gegebenenfalls an professionelle Helfer zu verweisen", erklärt er. Etwa 50 Mal im Jahr rücken die speziell geschulten Unfallbetreuer aus.
Die Seele ist verletzt
Die Krisenhelfer schirmen die Fahrer am Unfallort vor der Öffentlichkeit ab, versorgen sie mit Wasser, Traubenzucker oder einer Decke. Es seien die kleinen Handreichungen, die in einer solchen Extremsituation dem Fahrer sehr helfen, schildert Schork. "Wir signalisieren ihnen: Ich bin jetzt für dich da." Ähnlich wie bei der medizinischen Ersten Hilfe sei es entscheidend, dass der Fahrer am Unfallort so früh wie möglich betreut werde. Das helfe das traumatische Ereignis zu verarbeiten.
"Ziel ist es, eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTB) zu verhindern", erklärt Schork. Denn traumatische Ereignisse könnten zu psychischen Störungen, Sucht oder Depressionen führen. "Auch wenn der Fahrer körperlich unversehrt scheint, seine Seele ist verletzt", betont der Krisenhelfer. Albträume, Unruhe und Angst sind nach einem Unfall normal. Bleiben die Symptome aber länger und ein normaler Alltag scheint nicht mehr möglich, spricht die Medizin von einer PTB.
Fahrer oft von Schuldgefühlen geplagt
"Schreckliche Erlebnisse durch Verkehrsunfälle sind die häufigste Ursache für eine Posttraumatische Belastungsstörung", sagt Hans Kastl, Psychiater am Städtischen Klinikum in Karlsruhe, gegenüber ka-news. Allerdings erleiden aktuellen Studien zufolge nur 14 Prozent der Menschen, die einen schrecklichen Unfall erleben, tatsächlich eine PTB. In den meisten Fällen gelinge mit schneller Unterstützung die Verarbeitung des traumatischen Ereignisses sehr gut. "Schnelle Hilfe ist doppelte Hilfe", bestätigt der Mediziner.
Die Krisenhelfer hören aufmerksam zu, trösten und unterstützen. Manche Fahrer wollen sofort über das Unglück sprechen, andere seien sprachlos, sagt Schork. Manchmal sei es wichtig, nichts zu sagen. Die Ruhe ertragen. Einfach da sein. "Auch wenn das manchmal sehr schwierig ist."
"Wir lassen keinen alleine"
Wie geht es den Verletzten? Habe ich alles richtig gemacht? Das seien häufige Fragen, die betroffene Fahrer stellen. "Wir dramatisieren nicht, aber wir verschweigen auch die Realität nicht", so Schork. Es dürfe nicht passieren, dass ein Fahrer im Glauben nach Haus geht, der Verletze habe schwer verletzt überlebt, daheim erfährt er aber durch die Medien, die Person ist gestorben. "Er würde zusammenbrechen."
Überhaupt sei es wichtig, dass ein Fahrer nach einem solchen Schockerlebnis nicht alleine gelassen werde. Die Unfallbetreuer klären daher ab, ob Angehörige oder Freunde zu Hause sind. Wenn nicht, sei es auch schon vorgekommen, dass Kollegen über Nacht bei dem Fahrer bleiben. "Wir lassen keinen alleine", betont Schork. Auch organisieren die Krisenhelfer gemeinsam mit dem Fahrer die nächsten Tage nach dem Unfall. Begleiten ihn zum ärztlichen Dienst, unterstützen ihn bei der Unfallmeldung und fahren mit ihm zur Unfallstelle - wenn er das wünscht.
Phantasie grausamer als Realität
"Es ist sehr wichtig, dass das soziale Netz im Unternehmen greift. Wir versuchen die Fahrer wieder an den Dienst heranzuführen." Einige fahren bereits ein paar Tage nach dem Unfall wieder Bahn, manche können nie wieder arbeiten. Auch lange Zeit nach dem Unfall sind die Kollegen vom Krisenteam für die Betroffenen da. "Sie können sich jederzeit an uns wenden", versichert Schork. Das Betreuungsteam sei rund um die Uhr telefonisch erreichbar.
Wie verkraftet er selbst die Bilder an der Unfallstelle? "Wir reden innerhalb des Teams viel über die Ereignisse und unserer Gefühle", so Schork. Wichtig sei zudem, dass er bevor er zu einem Unfall ausrücke, viele Informationen über den Unfallhergang habe. So könne er sich auf der Fahrt zum Unfallort gedanklich darauf vorbereiten. "Die Phantasie ist grausamer als die Realität", meint Schork. Allein 2010 sind 126 Personen bei 108 Straßenbahnunfällen verletzt worden, zwei starben.
Die Angst fährt immer mit
Bei den meisten Unfällen treffe die Fahrer keine Schuld, sagt Schork. "Die Bahn fährt an eine Signalanlage, plötzlich rennt aus einer Gruppe von Leuten eine Person direkt vor den Wagen. Da haben sie keine Chance", verdeutlicht er. Der Fahrer wisse in diesem Moment, dass es trotz eingeleiteter Notbremsung nicht mehr reiche. Ein Autofahrer könne noch versuchen das Lenkrad herumzureißen. Die Bahn kann nicht ausweichen. Der Zusammenprall ist unausweichlich. "Das ist die totale Hilflosigkeit", so der Krisenhelfer.
Ein Straßenbahnfahrer der VBK, der nicht mit Namen genannt werden möchte, schildert gegenüber ka-news seine tägliche Anspannung: "Wenn man in die Innenstadt fährt, geht der Puls hoch, man ist extrem angespannt." Gerade die vielen Baustellen würden es derzeit sehr schwer machen, weil es sehr viele unübersichtliche Ecken gebe, aus denen plötzlich eine Person hervorschießen könne, so der Fahrer. "Die Angst einen Fehler zu machen, fährt ständig mit." Ein Intercity habe nur ein kleines Fenster - eine Straßenbahn dagegen eine riesige Panoramascheibe. "Wenn man da jemand überfährt, nimmt man das ganz anders wahr."
Schork versteht die Fahrer - er fährt selbst Bahn
"Wenn mir ein Fahrer erzählt, was für eine große Belastung es ist durch die Fußgängerzone zu fahren, dann kann ich das nachempfinden, weil ich weiß wie das ist", sagt Unfallbetreuer Schork. Er war selbst jahrelang Straßenbahnfahrer und ist als Leiter der Fahrbetriebe auch heute noch als Fahrer unterwegs.
Michael Schork arbeitet seit 30 Jahren bei den VBK. 1999 gründete er das Kriseninterventionsteam. Zuerst war er Einzelkämpfer, heute besteht das Team aus elf speziell geschulten Mitarbeitern von VBK und AVG. Im Notfall verlässt Schork oder einer seiner Teammitglieder umgehend den Arbeitsplatz und leistet Kollegenhilfe.