Und erst der heutige Polizeibericht aus Pforzheim enthält ebenfalls einen Fall von Zivilcourage, bei dem ein Mann, der einem in Gefahr geratenen Mitmenschen helfen wollte, bitter dafür zahlen musste. Auch im aktuellen Fall aus dem Münchner Süden sind die Siebengescheiten und Neunmalklugen wieder schnell bei der Sache: Dominik B. sei eben leichtsinnig gewesen, und deswegen zum Opfer geworden. Passanten auf dem Bahnsteig hätten „nur passiv zugeschaut“, seien nicht eingeschritten. Überhaupt: es mangele an Überwachungseinrichtungen, wie der stationären Videokamera – oder die Strafen, die Jugendlichen bei Gewalttaten drohen, seien allzu lasch und gehörten dringend verschärft. Es ist dabei fast eine Wohltat, dass der tödliche Vorfall am S-Bahnhof Solln nun nicht auch noch „zum Thema“ im Bundestagswahlkampf zu werden droht.
Richtig ist dagegen: Dominik B. hat unerschrocken Zivilcourage gezeigt, und das mit dem Leben bezahlt. Wegschauen ist auch für die Gesellschaft fehl am Platz, die sich mit solchen Taten auseinandersetzen muss. Das gilt für die Tat in Solln, dem südlichsten Stadtteil von München – unweit Fürstenried und Pullach – der nicht etwa zu den sozialen Brennpunkten zählt, sondern vielmehr zu "den teuersten Wohngegenden" der bayerischen Landeshauptstadt. Das gilt ebenso für die Schulattentate in Ansbach, Winnenden, Erfurt. Das gilt aber auch, um bei dem schrecklichen Vorfall im Juni 2006 am Kronenplatz zu bleiben – für eine beschauliche kleine Großstadt wie Karlsruhe.
Der Jugendliche hat sein Problem erkannt: Er will sein Leben grundlegend ändern.
In einer Agenturmeldung dieser Tage wurde ein 15-jähriger Justin zitiert, für den klar zu sein scheint, warum zwei Jugendliche auf dem Münchner S-Bahnhof den 50-jährigen Dominik B. zu Tode geprügelt haben: "Die haben keinen Respekt vor sich selbst und vor anderen", meinte der Teenie, der sich selbst bestens auskennt mit Straftaten. Seit seinem zwölften Lebensjahr ist er polizeibekannt: Diebstahl, Brandstiftung, Raubüberfall und Erpressung – die ganze Bandbreite, die man sich vorstellen kann. Der Jugendliche "outlaw", eine Art Gesetzesloser, hat sein Problem erkannt: Er will sein Leben grundlegend ändern.
Gewaltbereite Psychopathen hat es wohl immer schon gegeben. Die Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen – und erschreckend ist dabei, dass dies für junge Männer wie für junge Frauen gleichermaßen gilt – hat zwar einerseits zahlenmäßig, so sagt die Statistik geringfügig abgenommen. Dafür wird aber vielfach heute umso heftiger, hemmungsloser – und sinnloser draufgehalten. "Die Jugendlichen sind nirgendwo gewollt und wünschen sich eigentlich nur eine Heimat", sagen Sozialarbeiter.
Horrende Jugendarbeitslosigkeit und gefährliche soziale und mediale Verwahrlosung
Wer etwas tiefer nachdenkt, stösst auf eine horrende Jugendarbeitslosigkeit und auf eine bedenklich stimmende und gleichermaßen gefährliche soziale – und vor allem auch: mediale – Verwahrlosung junger Menschen. Wer schon einmal in der Straßenbahn oder auf Schulhöfen den Unterhaltungen von 13-, 14- oder 15-jährigen zugehört hat, und feststellte was dabei für Kraft- und Schimpfworte gebraucht werden, der kann dem 15-jährigen Justin nur zustimmen: "Die haben keinen Respekt vor sich selbst und vor anderen". Harte Arbeit im Alltag war früher ein wichtiger Prozess in der persönlichen Sozialisation junger Menschen. Kriminalität wird dort, wo diese Art von Anerkennung wegfällt, zum alternativen Versuch der Bildung von "Selbst – Bewusstsein“.
Da gibt es in der Tat an vielen Stellen Handlungsbedarf, in den Familien, wo Jugendliche teilweise sich selbst überlassen bleiben – oder aber im Gegenteil: zu sehr "betüttelt" werden und keinen Freiraum mehr "zur Reifung" haben. In den Schulen, wo nicht Konkurrenzkampf, sondern Erziehung zum "Team-Spieler" gefragt sein sollte. Beispielsweise in Hessen, wo ein Ministerpräsident in Manier eines "Cowboys" aus dem Wilden Westen vergangenes Jahr mit absurd stumpfem Wahlkampfstil meinte, die Wählerstimmen mobilisieren zu können, wurden gerade wieder die Mittel für Schulsozialarbeit drastisch gekürzt. Aber auch Schulen können dabei nicht das ausbügeln, was im Elternhaus Jahre zuvor schon versäumt wurde.
Achtung für andere hat nur derjenige, der Achtung vor sich selbst hat...
Falsch gewickelt sind auf jeden Fall jene Politiker, die nach dem S-Bahn-Mord von München-Solln zuallererst nach Strafverschärfung oder Video-Überwachung rufen. Der Weg beginnt vermutlich dort, wo schon das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ansetzt: Bei der Würde des Menschen. Würde und Respekt für andere entwickelt aber nur derjenige, der Achtung vor sich selbst hat. Das gilt für die Schreckenstat am S-Bahnhof Solln, das gilt für Ansbach, Winnenden, Erfurt, aber auch für den Mord im Juni 2006 am Karlsruher Kronenplatz.
Ein Kommentar von Stefan Jehle