Wer an einen Gottesdienst denkt, wird wohl schnell das Bild eines altehrwürdigen Gemäuers, eines Geistlichen vor dem Altar und ganzer Reihen von Holzbänken vor Augen haben. Zweifelsohne gibt es mittlerweile auch modernere Kirchen, doch auch die können den Mitgliederschwund bei den Volkskirchen nicht bremsen. Ein Anstieg der Mitgliederzahlen der beiden großen Kirchen käme nach Einschätzung des Religionssoziologen Detlef Pollack "einem Wunder gleich".
Im vergangenen Sommer hat beispielsweise die Evangelische Landeskirche die Zahlen für 2017 veröffentlicht: Zu dem Zeitpunkt verzeichnete sie 1.156.407 Mitglieder. 9.656 Taufen und 1.131 Eintritten standen im vergangenen Jahr 10.533 Austritten gegenüber. Vor allem aufgrund des demographischen Wandels verlor die badische Landeskirche jedoch insgesamt knapp 18.500 Mitglieder.
Mitgliederzahl bei den Freikirchen wächst
In Anbetracht dieser Zahlen kommen Nachrichten wie die von der "Alive Church" oder der Freien Evangelischen Gemeinde (FEG) in Karlsruhe überraschend: Beide Gemeinden mussten jüngst neue Stätten für ihre Gottesdienste finden, weil die alten Räume schlicht zu klein geworden sind angesichts der Zahl der Mitglieder. Mittlerweile gehören nach eigenen Angaben rund 800 Personen zur FEG, die Alive Church zählt rund 350 Mitglieder in Karlsruhe.

"Als wir die Alive Church 2014 gegründet haben, war das alles noch nicht greifbar", wird Graziano Gangi, der leitende Pastor, in einer Pressemeldung zitiert. Das frühere Hauptgebäude in der Amalienbadstraße ist nach rund vier Jahren zu klein geworden - nun werden die Gottesdienste in der Festhalle in Durlach gefeiert. Rund 230 Menschen besuchen laut der Gemeinde jede Woche den Gottesdienst. "Jede Woche haben wir zehn bis 20 Besucher die einfach mal reinschauen und vorher noch in keinem Gottesdienst der Alive Church waren", so Gangi weiter.

Freiwilliger Eintritt in die Kirche
Ähnliche Erfahrungen haben auch Sebastian Brenner und Alexander Gimbel gemacht. Beide sind Pastoren bei der Freien Evangelischen Gemeinde in Karlsruhe. Der Platz im Gemeindezentrum reichte irgendwann einfach nicht mehr aus, jetzt wird die Predigt zusätzlich auf eine Kinoleinwand in den Universum-City Kinos übertragen. "Diese Expansion war notwendig, um dem Wachstum zu begegnen", so Brenner. Ein weiteres Ziel sei es gewesen, an mehr Orten präsent zu sein.

Präsenz, die eine Freikirche aus Sicht der beiden Pastoren auch benötigt: Anders als bei einer Volkskirche, ist man bei einer Freikirche nicht von Geburt an Mitglied. Vielmehr entscheidet man sich freiwillig und in vielen Fällen erst zu einem späteren Zeitpunkt im Leben für das Engagement in einer Freikirche. Im Gegensatz also zu den beiden großen Kirchen, wo die Kinder oft bereits kurze Zeit nach der Geburt durch die Taufe Mitglied der Gemeinde werden. Eben diese Freiwilligkeit und das Ehrenamt sei es aber, das eine Freikirche ausmacht.
Parallelen zu Volkskirchen - aber auch Unterschiede
"Als evangelische Freikirche haben wir das gleiche Glaubensbekenntnis wie zum Beispiel die Evangelische Landeskirche, sind aber nicht organisatorisch an diese angegliedert", beschreibt es Graziano Gangi. "Alles was in der Kirche passiert ist nur durch den Einsatz vieler ehrenamtlicher Mitarbeiter und die freiwilligen Spenden der Gottesdienstbesucher möglich." Auch bei der FEG sorgen rund 120 Personen aktiv und ehrenamtlich dafür, den Gottesdienst und den Rahmen mit Leben zu füllen. Finanziert werden die Gemeinden nicht über die Kirchensteuer, sondern durch Spenden.

Und das ist es auch, was die Verantwortlichen als mögliches Erfolgsrezept für ihre Konzepte ansehen: "Wir versuchen als Kirche sehr offen zu sein und richten die Gottesdienste und alle Veranstaltungen stark auf Menschen aus, die vielleicht bisher noch nicht so viel mit Kirche zu tun hatten", so Gangi von der Alive Church. Zu dem Gottesdienst gehören bei ihm "bunte Videoclips, viel Licht und Tontechnik und eine komplette Band anstelle eines Kirchenchors oder Orgelklängen."
Nichts ist in Stein gemeißelt
Die FEG-Pastoren Sebastian Brenner und Alexander Gimbel fühlen sich ebenfalls nicht unbedingt den Traditionen verpflichtet, wie sie erzählen: "Für uns braucht eine Kirche keine Orgel oder bunte Kirchenfenster." Bei der FEG gibt es gar einen Producer, der die Gottesdienste "designt". Auch hier gibt es Bands, die im Gemeindehaus und im Kino Live-Musik bieten. "Alles ist erlaubt, wir probieren viel aus. Und wenn es uns nicht gefällt, dann machen wir das nächste Mal etwas anders", beschreiben die beiden ihren Ansatz.
Dennoch gibt es Elemente, die eine Ähnlichkeit mit einem traditionellen Gottesdienst haben: Predigten zum Beispiel. Bei der FEG orientiert man sich da an einem Jahresprogramm, das an bestimmten Bibel-Passagen festgemacht wird. Diese Themen werden dann auch in Kindergruppen zeitgleich zum Gottesdienst besprochen.
Doch ist diese Freiwilligkeit und das hohe Engagement das Erfolgsrezept für das Wachstum in den Mitgliederzahlen? Darauf wollen sich Sebastian Brenner und Alexander Gimbel nicht festlegen.
Große Kirchen begrüßen neue Glaubensformen
Die großen Kirchengemeinden sind gegenüber den Freien Kirchen offen: "Ich freue mich über jede Form von christlicher Gemeinschaft, Verkündigung, gottesdienstlicher Feier, praktizierter Nächstenliebe, sofern sie jeweils die Freiheit jeder und jedes einzelnen akzeptieren und den Menschen in ihrem Leben helfen", sagt beispielsweise Hubert Streckert, Dekan der Katholischen Kirche Karlsruhe. Dem pflichtet auch sein Kollege, Dekan Thomas Schalla von der Evangelischen Kirche bei: "Die Freikirchen sind ein wichtiger Faktor im religiösen Leben Karlsruhes."

Aber kann und will man sich etwas abschauen von den kleineren Gemeinden? Eher nicht: "Freikirchen erreichen oft andere soziale Milieus als die großen Volkskirchen – das ist ihre große Stärke", begründet es Thomas Schalla. Streckert stimmt dem zu: "Die Freikirchen decken ein Spektrum christlicher Praxis ab, das für viele attraktiv ist, weil es ohne große institutionelle und traditionsgebundene Einflüsse auskommt. Deshalb wirken Freikirchen meistens spontaner, direkter, persönlicher. Viele finden scheinbar dort ein unmittelbares religiöses Erleben eher als bei den großen Kirchen."
Volkskirche als "großer behäbiger Tanker"
Formen der freien Kirchen könne man auch aus organisatorischen Gründen gar nicht übernehmen: So sei die Katholische Kirche "eher wie ein großer behäbiger Tanker, der durch das Meer der Zeit fährt, ein Apparat, der sich oft schwer tut mit Veränderungen und der Reaktion auf moderne Phänomene, wenn Sie etwa an Musik oder Sprache denken", so Streckert.

Er ist sich sicher, dass diese moderne Glaubensform auch ihren Umbruch erleben wird: "Ich versuche immer wieder deutlich zu machen, dass Tradition nicht das Hüten von Asche, sondern das Weitergeben von Feuer, gerade auch in unserer Kirche bdedeutet. Ich denke, dass viele Freikirchen, die über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte bestehen wollen, ähnliche Themen mit ihren Mitgliedern bekommen werden, wie die großen Kirchen."