In der Schweiz feiern die Eidgenossen stolz den Durchstoß des Gotthard-Basistunnels als ihr "Jahrhundertprojekt", während in Deutschland die Bürger gegen Großprojekte wie Stuttgart 21 auf die Straße gehen. Auch gegen den Ausbau der Rheintalbahn formiert sich Widerstand - bereits 172.000 Einwendungen in Südbaden richten sich gegen das Projekt.
In der Situation um das Bahn-Großprojekt Stuttgart 21 liegt aus Schweizer Sicht die Lösung auf der Hand: "Die Frage müsse eben vors Volk", war kürzlich in den Schweizer Medien zu lesen. "Was hierzulande zum politischen Alltag gehört, ist in der Bundesrepublik die exotische Ausnahme," erklärte die Neue Züricher Zeitung.
Volksabstimmungen sind in Deutschland tatsächlich die Ausnahme. In Baden-Württemberg wurde beispielsweise auf Landesebene noch nie ein Volksentscheid durchgeführt. Das liegt vor allem daran, dass Volksabstimmungen mit sehr hohen Hürden verknüpft sind (s. Infobox). In der Schweiz gehören Bürgerentscheide dagegen zum normalen Staatsverständnis.
"Deutsche Politiker können viel vom Schweizer Modell lernen"
Ist zu wenig Bürgerbeteiligung der Grund dafür, dass vor der Baustelle am Stuttgarter Hauptbahnhof kein Bürger stolz die Landesfahne schwenkt? Hätten die Bürger das Bauvorhaben eher akzeptiert, wenn Politiker sie rechtzeitig mit in die Planung einbezogen hätten? Was können deutschen Politiker von ihren schweizer Kollegen lernen?
"Die deutschen Politiker können viel vom Schweizer Modell lernen", meint der Leiter der Forschungsstelle Bürgerbeteiligung und Direkte Demokratie Marburg, Theo Schiller, gegenüber ka-news.
Die Schweizer würden gerade in der Verkehrspolitik eine "bürgeroffene Strategie" verfolgen. Die Öffentlichkeit werde in der Schweiz frühzeitig über anstehende Großprojekte aufgeklärt. Und da Regierung, Parteien und Verbände öffentlich über Bauvorhaben diskutieren, werden Projekte transparent dargestellt, erklärt Professor Schiller. So werde das Interesse der Bürger für Megaprojekte geweckt und sie könnten rechtzeitig eigene konstruktive Ideen einbringen. Außerdem hätten Bürger die Möglichkeit ihre Einwände und Ängste zu äußern. Am Ende dieses transparenten Prozesses stehe dann schließlich der Volksentscheid. Da die Bürger am Entscheidungsprozess aktiv mitwirken können, identifizieren sie sich besser mit dem Projekt, so Schiller.
Bürger werden nicht in Entscheidungsprozesse einbezogen
In Deutschland hingegen würden die Bürger vor vollendete Tatsachen gestellt. Sie hätten häufig das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Und auch das Verhalten der Politiker werde oft als arrogant empfunden. "Wir erklären euch das jetzt mal, aber geändert werden kann nichts mehr", würden die Bürger zu hören bekommen, kritisiert Schiller. "Das verärgert die Bürger und begünstigt Protestbewegungen", sagt der Forscher. Gerade sogenannte Planfeststellungsverfahren seien ein rein bürokratischer Akt und für die meisten Bürger nicht nachvollziehbar. Schiller plädiert dafür, Bürger viel früher mit in Entscheidungsprozesse einzubeziehen.
Wenn ein Volksentscheid am Ende einer bereits feststehenden und langwierigen Planung steht, die Politiker bereits entschieden haben, so kommt er zu spät. Steht der Volksentscheid am Ende eines gemeinsamen Entscheidungsprozesses zwischen Bürgern und Politikern, dann kann das Ergebnis nur ein qualifizierteres sein, ist sich Schiller sicher. Politiker müssten sich mehr mit den Bedürfnissen und Ängsten der Bürger auseinandersetzen. Die Kluft zwischen Bürgern und Politikern werde sonst immer größer.
Infobox: Volksabstimmung
- Die Verfassung von Baden-Württemberg sieht landesweite Volksabstimmungen vor. Die Bürgerbeteiligung ist jedoch mit sehr hohen Hürden verknüpft. Bevor eine Volksabstimmung durchgeführt werden kann, muss ein sogenanntes Volksbegehren stattfinden. Mit einem Volksbegehren können Bürger das Parlament oder die Regierung dazu zwingen, sich mit bestimmten Fragen neu auseinanderzusetzen.
- Für den erfolgreichen Antrag eines Volksbegehrens müssen 10.000 Unterschriften gesammelt werden. Der Antrag muss als ausgearbeiteter Gesetzentwurf formuliert sein und wird dem Innenministerium zur Prüfung vorgelegt. Wird das Volksbegehren zugelassen, muss ein Sechstel der Stimmberechtigten - derzeit etwa 1,2 Millionen Bürger - mit ihrer Unterschrift das Volksbegehren unterstützen. Die Initiatoren des Begehrens haben dafür zwei Wochen Zeit und dürfen die Unterschriften nicht auf der Straße sammeln. Die Unterschriftenlisten liegen nur in Ämtern aus.
- Nach einem erfolgreichen Volksbegehren wird, falls der Landtag sich dem Anliegen nicht anschließt, eine Volksabstimmung durchgeführt. Hier muss die Mehrheit, aber mindesten ein Drittel der Wahlberechtigten - zurzeit rund 2,5 Millionen Bürger - für den Gesetzentwurf stimmen, sonst ist dieser gescheitert. Des Weiteren sieht die Verfassung eine Volksabstimmung vor, wenn ein Drittel der Mitglieder des Landtags eine Volksabstimmung verlangen.
Anfang der 90er Jahre glaubten immerhin noch 42 Prozent der deutschen Bevölkerung, die Politiker orientierten sich an den Interessen der Bürger, inzwischen sind es nur noch 15 Prozent.
"Wir sollten uns die Schweizer als Vorbild nehmen", fordert auch der SPD-Landtagsabgeordnete Johannes Stober. Die Landtagsabgeordnete der Grünen, Gisela Splett, sagt: "Die Planungen für Großprojekte müssen transparenter werden. Die Schweiz ist ein gutes Beispiel dafür, wie durch Volkeswille sinnvolle Projekte legtimiert werden können". "Wir müssen die Bürger mehr mitnehmen, das haben wir aus Stuttgart 21 gelernt. Wir wollen beim Ausbau der Rheintalbahn nicht dasselbe nochmal erleben", sagt auch die CDU-Landtagsabgeordnete Katrin Schütz.
Übrigens: Am Dienstag, 26. Oktober, teilte die Landesregierung Baden-Württembergs mit, dass laut Gutachtern, das Grundgesetz und die Landesverfassung den von der SPD vorgeschlagenen Weg für eine Volksabstimmung verbieten und eine Volksabstimmung zum Bahnprojekt Stuttgart - Ulm daher verfassungswidrig sei. Ministerpräsident Stefan Mappus sagte außerdem: "Es ist falsch, hochkomplexe Sachverhalte auf eine einfachen Ja oder Nein Antwort zu reduzieren."
SWR-Video: SPD: Volksabstimmung über S 21 zulässig
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