Für sein Engagement für eine gerechtere Wirtschaftsordnung erhielt er zahlreiche Preise. ka-news Redakteur Stefan Jehle unterhielt sich mit dem Jesuitenpater Hengsbach über die Folgen des Hartz-IV-Urteils, die zunehmende Kinderarmut und grundlegende Systemfehler eines ausgeprägten Wirtschaftsliberalismus. Das Gespräch ist Teil einer Serie zum Thema Sozialpolitik in Deutschland. Im März erschien ein großes Interview mit dem hessischen Sozialrichter Jürgen Borchert. Jesuit Hengsbach stellt gegenüber ka-news fest, die Spaltung der Gesellschaft sei in den vergangenen Jahren immer größer geworden. Aber er erzählt im Gespräch auch, dass er sich mehr als 30 Jahre von Mensa-Essen ernährt hat. Und das nicht mal schlecht.
ka-news: Grundsätzlich gefragt: Wie definieren Sie Armut und Reichtum heute in Deutschland, und wenn Sie es vergleichen würden: zum Beispiel vor 15 Jahren, zur Blütezeit der schwarz-gelben Regierung Helmut Kohl?
Hengsbach: Armut ist immer relativ. Tatsächlich ist das Armutsrisiko seit Mitte der 70er Jahre, von wenigen Ausnahmen konjunktureller Belebung abgesehen, tendenziell gestiegen. Die Spaltung der Gesellschaft hat sich kontinuierlich vergrößert. Die Schere zwischen denen, die weiterhin an dem wachsenden Wohlstand Anteil nehmen, und denen, die davon ausgeschlossen sind, hat sich weiter geöffnet.
Als besonders gravierend hat der dritte Armutsbericht der Bundesregierung festgestellt: Neben dem Armutsrisiko ist die Zahl der prekären Arbeitsverhältnisse dramatisch gestiegen, also die Zahl derer in Teilzeitarbeit, in Leiharbeit oder Scheinselbständigkeit. Dazu kommt ein wachsender Niedriglohnsektor, dessen Löhne durch Hartz IV aufgestockt werden müssen.
ka-news: Ist das Problem zunehmender Armut in Deutschland ausreichend erkannt? Der erste Armutsbericht überhaupt ist ja gerade mal gut acht Jahre alt...
Hengsbach: Man redet viel von neuer Armut, aber es sind immer dieselben Ursachen: hohe Arbeitslosigkeit mit immer mehr Langzeitarbeitslosen. Dann die Zugehörigkeit zu einem Haushalt mit Kindern, Alleinerziehende und Ausländer. Gerade die Haushalte mit Kindern sind einem überdurchschnittlichen Armutsrisiko ausgesetzt. Kinder bilden derzeit die größte Armutsgruppe in Deutschland.
ka-news: Ist das auch von der Politik ausreichend erkannt?
Hengsbach: Die Politiker versuchen abzuwiegeln. Sie behaupten, vermutlich zu Recht: Ohne die gewährten Sozialleistungen wäre die Armut noch viel größer.
Neben der Methode der Verdrängung besteht die zweite, besonders perfide Form des Kampfes gegen die Armut darin, dass man die Armen selbst verantwortlich macht für die miserable Lage, in der sie leben. Obwohl, wie allgemein bekannt, die Arbeitslosigkeit eine der Hauptursachen von Armut ist, wirft man Hilfsbedürftigen vor, sich freiwillig, durch eigenes Verschulden in diese Lage hinein gebracht zu haben.
ka-news:
Baden-Württemberg gilt als reichstes Bundesland, weigert sich aber seit Jahren einen eigenen Armutsbericht zu erstellen. Ist das ein Armutszeugnis?
Hengsbach: Ganz klar. Darin äußert sich das Vorurteil der politischen Eliten des Landes die Schattenseiten eines wohlhabenden Landes wahrzunehmen. Was am Rande prosperierender Regionen geschieht, wird vertuscht.
Man will die Armut nicht zur Kenntnis nehmen, die in einem derart reichen Land, wo so viel Geld und Kapital vorhanden ist, besonders beschämend wirkt. Trotzdem gibt es die Armut auch in Baden-Württemberg.
ka-news:
Wem es gut geht, sind die Banken - nach wie vor. Sie halten dort häufig Vorträge: Hatten Sie jemals einen Gedenken dran verschwendet, Bankier zu werden?
Hengsbach: Ich nicht (lacht), nein: meine Lebensentscheidung war, in einen Orden einzutreten. Für mich ist die religiöse Überzeugung und das Engagement für Gerechtigkeit der Kern meines Lebensentwurfs, den ich mit anderen Menschen, auch Jesuiten teile, die vor mir eine solche Aufgabe übernommen haben. Ich versuche freilich bei Bankiers Überzeugungsarbeit zu leisten.
Die Antwort auf die Finanzkrise kann nicht sein, dass man bloß das Feuer löscht - man sollte mit dem Brandschutz beginnen. Dafür ist bislang fast nichts gemacht worden.
ka-news:
Sie sind mit 20 Jahren Jesuit geworden. Tun seit 50 Jahren das, was Sie Banken abfordern. Maß halten. Ist Ihr Leben ein wandelndes Beispiel?
Hengsbach: Ich lebe nicht arm. Die Jesuiten leben in ihrer großen Mehrheit unter einfachen Verhältnissen. Ich weiß jetzt gar nicht mal genau, wie ich das Niveau meines Lebensstandards beziffern sollte. Ich habe beispielsweise seit 30 oder 40 Jahren nur Mensa-Essen gegessen.
ka-news:
Das soll auch gesund sein....
Hengsbach: Das ist sicher sehr gesund. Zum Teil auch deshalb, weil ich dann manche Liebhabereien, die ich auch gerne hätte, gar nicht bekomme. Es wird das gegessen was auf den Tisch kommt - eine Regel, die in vielen privaten Haushalten ganz normal gilt. Wir leben als Ordensmitglieder relativ einfach. Allerdings muss ein solcher Lebensstil nicht für alle verbindlich sein.
ka-news:
Was bedeutet die offenkundig zunehmende Diskrepanz zwischen Arm und Reich für einen Jesuiten, für sie als Theologe, der selbst gelobt hat, ohne eigenen Besitz zu leben?
Hengsbach: Die politisch Verantwortlichen haben den Auftrag, das zu verwirklichen, was in der Verfassung geboten ist: gleichwertige Lebensverhältnisse in den Regionen der Bundesrepublik zu schaffen. Das ist das eine. Und zum anderen das Sozialstaatsprinzip und den Art 1 Grundgesetz - wie das Bundesverfassungsgericht jetzt im Hartz IV-Urteil verlangt hat - nämlich die unantastbare Würde des Menschen, für alle Bürger der Bundesrepublik zur Geltung zu bringen. Das Engagement für Gerechtigkeit und für soziale Grundrechte bedeutet für mich auch, in gesellschaftlichen Gruppen und Bewegungen zum Widerstand und zivilen Ungehorsam aufzurufen, der sich gegen diese verfassungswidrige Politik wehrt.
ka-news: Was halten Sie von der Diskussion, die Guido Westerwelle mit seinem Begriff "spätrömische Dekadenz" ausgelöst hat?
Hengsbach: Das ist potenzierter Schwachsinn. Da bleibt nur beschämtes Schweigen.
ka-news: Das Budget des Staates wird knapper, was halten Sie aktuell von Diskussionen neuerlicher Steuersenkungen?
Hengsbach: Der Staat hat sich selbst arm gemacht, in dem er durch seine Steuer- und Finanzpolitik die Steuerlasten von oben nach unten umverteilt hat. Die Mehrwertsteuererhöhung war eine steuerliche Mehrbelastung der breiten Bevölkerungsschichten. Gleichzeitig hat der Staat die Körperschaftssteuer und im oberen Bereich die Einkommenssteuer abgesenkt, also eine Entlastung der Wohlhabenden und der extrem Reichen bewirkt. So steht aktuell der riesigen Staatsverschuldung eine Bereicherung privater Haushalte gegenüber - und zwar innerhalb derselben Generation.
ka-news: Die Diskussion wird geprägt von Schlagworten: Tafelläden für Bedürftige, eine Art Almosenabgabe, nehmen zu - Hartz IV ist ein anderes Schlagwort. Sind das Begriffe, die Menschen ächten - und im Selbstwertgefühl zerstören - können?
Hengsbach: Wenn Sozialpolitik sich im Almosengeben erschöpft, ist das erstens eine Frage der Entwürdigung hilfebedürftiger Menschen. Zweitens der dauernden Entrechtung und des Ausschlusses gesellschaftlicher Beteiligung. Stattdessen sollte eine aktive Beschäftigungspolitik Bestandteil einer Wirtschaftspolitik sein, welche die Kaufkraft der Massen durch Vollbeschäftigung stärkt und nicht das Geldvermögen einer Minderheit durch Spekulationsgeschäfte. Allerdings sollte die Arbeit an den Menschen und der ökologische Umbau zentral werden.
(Interview: Stefan Jehle) ___________________ Hintergrund, zum Interviewpartner: Friedhelm Hengsbach SJ (geboren 1937 in Dortmund) ist ein deutscher Jesuit und zählt heute zu den bekanntesten Sozialethikern in Deutschland: ein Kämpfer für Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich. Der Theologe, seit kurzem wohnhaft in Ludwigshafen, ist einer der wenigen den gleichzeitig ökonomischer Sachverstand auszeichnet, und war von 1985 bis 2005 Professor für Christliche Wirtschafts- und Sozialwissenschaft an Philosophisch-Theologischer Hochschule in Frankfurt. Der Kritiker am fortschreitenden Sozialabbau leitete zudem von 1992 bis 2006 das Nell-Breuning-Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik. Seit Oktober 2008 lebt er in Ludwigshafen und gehört der Jesuitenkommunität im dortigen Heinrich-Pesch-Haus an. Auszeichnungen (beispielhaft): 1998 wurde er mit dem 1977 von der SPD gestifteten Gustav-Heinemann-Bürgerpreis ausgezeichnet. 2004 erhielt er den "Regine-Hildebrandt-Preis für Solidarität bei Arbeitslosigkeit und Armut".