Niedermann hat die Nazi-Herrschaft überlebt, versuchte zu vergessen, zu verdrängen. Doch immerwährende Alpträume ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Die einzige mögliche Therapie: über das Geschehene sprechen. "Heute sehe ich es als meine moralische Verpflichtung, über damals zu berichten. So lange ich noch kann, werde ich erzählen, was damals passiert ist. Um die Menschen wach zu halten, damit sie wissen, wo sie aufpassen müssen", so Niedermann. Jahre sind vergangen, bis er zum ersten Mal über seine Vergangenheit sprechen konnte. "Sogar gegenüber meiner Frau waren Details aus meiner Kindheit und Jugend tabu. Ich empfand es als zu schmerzvoll, mir all die Dinge wieder in Erinnerung zu rufen." Doch dann musste er reden: 1987 als Hauptzeuge im Prozess gegen Klaus Barbie. Barbie, der als "Schlächter von Lyon" in die Geschichte einging, hatte einige Jahre die Aufsicht über das Kinderheim Izieu, in dem auch Niedermann untergebracht war. Furchtbar sei es gewesen, alles noch einmal durchleben zu müssen. "Aber auch heilsam, denn anschließend hörten die Alpträume auf."
1988 lud die Stadt Karlsruhe Überlebende der Deportation ein, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Auch Niedermann kam und sprach einmal mehr über die Vergangenheit. "Der Barbie-Prozess und der Besuch in Karlsruhe haben mir deutlich gemacht, wie wichtig es ist, dass wir Augenzeugen das weitergeben, was wir erlebt haben. Ja, es gibt viele Filme und Bücher über den zweiten Weltkrieg, aber die können keine persönlichen Fragen beantworten." Seither kommt er in regelmäßigen Abständen nach Karlsruhe und spricht vor Schulklassen. "Je älter ich werde, desto anstrengender wird es. Aber ich bekomme soviel Briefe von den Schülern und Lehrern an deren Schulen ich war, das ist für mich immer wieder ein Ansporn."
Englisch lernen für die Flucht
1927 in Karlsruhe geboren lebte Niedermann mit seiner Familie zunächst in dem Haus der jüdischen Gemeinde Ecke Kronenstraße und Steinstraße. Sieben Jahre später begann die Gettoisierung der Juden. Als jüdische Kinder die Schulen verlassen mussten, richtete die jüdische Gemeinde in dem Haus neben der ehemaligen Synagoge in der Kronenstraße Klassenzimmer ein. "Dort hatten wir teilweise bei Hochschulprofessoren, die nicht mehr lehren durften Unterricht. Und wir lernten Englisch, denn jeder dachte an Flucht." 1936 musste Familie Niedermann umziehen, eine Polizeiwache kam in ihr Haus. Die jüdische Gemeinde mietete ein Gebäude in der Herrenstraße an. "Als ich nach dem Krieg zum ersten Mal wieder nach Karlsruhe kam, lag die Innenstadt fast komplett in Schutt und Asche. Aber unser Haus stand noch." 1940 erfolgte die Deportation ins Konzentrationslager Gurs in Frankreich.
Der Wille zu Überleben war Motivation
Niedermanns Rettung: die jüdische Kinderhilfsorganisation "Oeuvre de secours aux Enfants" (OSE). "OSE-Mitarbeiterinnen haben sich sozusagen under cover ins Lager geschleust und versuchten so viele Kinder als möglich zu befreien." Dank der Bestechlichkeit der Wachposten glückten rund 400 Befreiungen. Doch damit begann erst die eigentliche Flucht. "OSE brachte uns in Kinderheimen unter. Immer wenn die Gestapo auf eines der Heime aufmerksam wurde, mussten wir weiter." Auf der Flucht in einem fremden Land ohne die Sprache zu beherrschen? "Wenn es um das eigene Leben geht, ist das Motivation genug, um möglichst schnell und möglichst akzentfrei eine Sprache zu lernen." Irgendwann entschied die Heimleitung, dass Niedermann wegen seines Alters und seiner Größe eine Gefahr für das Heim darstellte und verhalf ihm zur Flucht in die Schweiz, wo er endlich in Sicherheit war. "Nach Kriegsende bin ich sofort wieder zurück nach Frankreich. Ich wusste, dass es dort noch zahlreiche Heime mit jüdischen Kindern gab, die größtenteils keine Eltern mehr hatten. Also kümmerte ich mich um die Kinder."
Eine Telefonnummer und 30 Brezeln
Wiederum einige Jahre später erfuhr Niedermann, dass sein Bruder und eine seiner Tanten die Flucht nach Amerika gelungen war. "Seither hat meine Tante nur Englisch gesprochen. Aber als ich sie zum ersten Mal besuchte und sie fragte, ob es in unserer Familie noch weitere Überlebende gibt, antwortete sie in breitem Karlsruher Dialekt: ‚Do komm e mol her, i hab do e Telefonnummer.’ Und tatsächlich konnte ich noch drei Cousinen ausfindig machen." Heute pendelt Niedermann zwischen seinem Wohnsitz in einem Pariser Vorort und seiner Familie in Amerika. Hat er manchmal so etwas wie Heimweh nach Karlsruhe? "Nein. Ich kann kein Heimweh an eine Stadt aufbringen, an die ich so viele ungute Erinnerungen habe. Allerdings muss ich Karlsruhe dafür loben, wie offen die Stadt heute mit ihrer Geschichte umgeht." Verbitterung gegenüber den Deutschen empfinde er nicht. Und trotz seiner verlorenen Kindheit und Jugend habe er in seinem Leben alles erreicht, was er erreichen wollte. Plötzlich werden Paul Niedermanns Augen ganz groß und sein Gesicht strahlt: "Eine Sache gibt es tatsächlich, die ich vermisse: Das sind die guten Karlsruher Brezeln." Bei jedem Karlsruhe-Besuch kauft er bis zu 30 Stück für zu Hause, zum Einfrieren. Auch wenn sie durch den Euro etwas teurer geworden sind als früher.