Ein Bericht von Christoph Ertz

Seine Königliche Hoheit erschien dann doch nicht zum Spiel. Prinz Max von Baden (1867-1929), später der letzte Kanzler des deutschen Kaiserreichs, war eigentlich Schirmherr des Länderspiels Deutschland gegen die Schweiz am 4. April 1909 in Karlsruhe und hatte sein Kommen fest zugesagt. Doch am Tag zuvor hatte er eine Automobilfahrt unternommen – wohl im offenen Wagen. Kurz vor Anpfiff telegrafierte er: Eine Erkältung fessle ihn ans Zimmer. Der Begeisterung für das erst fünfte offizielle Auftreten einer Auswahl des 1900 gegründeten Deutschen Fußballbundes (DFB) tat dies aber keinen Abbruch.

Sittliche Entrüstung beim Anblick nackter Knie

„Zu Fuß, per Rad, mit der Droschke und mit dem Automobil kam das Publikum“, berichtet tags darauf die „Badische Presse“, eine von zehn Zeitungen in der damals rund 125.000 Einwohner zählenden Fächerstadt. Selbst aus der Schweiz reisten Fußballbegeisterte an. Eine sensationelle Kulisse von bis zu 7.000 Zuschauern fand sich im „Stadion an der Telegrafenkaserne“ ein – dem Platz des Karlsruher Fußballvereins (KFV), in dessen Hintergrund sich die imposante Kaserne eines Nachrichtenregiments abzeichnete, als breite sie die Arme über Spieler und Zuschauer aus. Das Gebäude steht noch, aber das Stadion gibt es nicht mehr. Lange rottete es vor sich hin, ehe es 2006 abgerissen wurde.

Etliche der Besucher waren womöglich erst am Spieltag durch eine ungewöhnliche Werbeaktion angelockt worden. „Schon im Sportdress wurden wir durch die Stadt in Pferdedroschken Reklame gefahren“, erinnerte sich Anfang der sechziger Jahre der Pforzheimer Rechtsaußen Hermann Schweickert. „Die meisten Passanten lachten und winkten uns zu. Einige wandten sich aber auch, sittlich entrüstet, ab. Wir erschienen ihnen mit unseren nackten Knien als anstößig.“ Im Stadion versammelte sich dennoch reichlich „vornehmes Publikum“, wozu die „Badische Presse“ vor allem „Vertreter der Staats-, Militär- und Stadtbehörden“ zählte.

Mannschaftsaufstellung nach Entscheidung am „grünen Tisch“

„Der Fußball war bereits hoffähig geworden“, erklärt der Direktor des Karlsruher Stadtarchivs, Ernst-Otto Bräunche. Im wahrsten Sinne des Wortes: Fußball vor dem Ersten Weltkrieg war vor allem eine Angelegenheit von Bürgersöhnen und sonstigen Begüterten. „Fußball war teuer“, sagt Bräunche. „Auch für die Spieler.“ Spielergehälter gab es noch nicht, in der Regel auch keine Prämien und selbst mit den Spesen wurde geknausert. Die Spieler, die ab 15.40 Uhr in schwarzen Trikots mit weißen Ärmeln und einem großen Reichsadler auf der Brust gegen die Schweiz antraten, gehörten sicher nicht alle zu den elf Besten, die in Deutschland zu finden gewesen wären.

Dabei war es wahrlich an der Zeit, endlich mal zu gewinnen. Niederlage um Niederlage hatte die Nationalmannschaft aneinandergereiht, seit beinahe auf den Tag genau vor einem Jahr, am 5. April 1908, mit einem 3:5 in Basel gegen die Schweiz die Ouvertüre zur deutschen Länderspielgeschichte stattgefunden hatte. Nicht, dass man beim DFB nicht gewinnen wollte – aber der gesamte Fußball tickte damals einfach anders. Es gab keinen Nationaltrainer. Die Spielerauswahl erfolgte am „grünen Tisch“, wobei die regionalen Verbände erheblichen Einfluss ausübten und jeweils „ihre“ Spieler durchzudrücken versuchten.

Ersatzleute gab es keine

Zudem war Deutschland einfach zu groß, um stets die besten Spieler zusammenfassen zu können. Der DFB entschied sich für den 4. April zu einem Doppelkick: Eine Auswahl norddeutscher Vereine spielte in Budapest gegen Ungarn, während in Karlsruhe nur süddeutsche Spieler aufliefen. Die Taktik ging auf. Die Norddeutschen glichen dreimal zum 3:3-Endstand aus.

In Karlsruhe begrüßte Spielführer Josef Glaser vom Freiburger FC seine Kameraden erst am Vormittag des Spiels. Neben dem nicht nur spielintelligenten Kapitän, der ein Jahr später in Philologie promovierte, ruhten die Hoffnungen vor allem auf Flügelstürmer Emil Oberle (Phönix Karlsruhe), Stürmer Otto Löble (Stuttgarter Kickers), Torjäger Fritz Förderer (Karlsruher FV), Außenläufer Karl Burger von der SpVgg Fürth, der die weiteste Anreise hatte, und auf Eugen Kipp, der für die Sportfreunde Stuttgart und später für die Stuttgarter Kickers aktiv war. Der schussgewaltige Stürmer galt vielen als einer der größten deutschen Fußballer seiner Epoche. Alle waren sie per Telegramm nach Karlsruhe beordert worden. Ersatzleute gab es keine.

„In flottem Tempo wogte der Kampf auf und ab“

Um etwa halb Drei betraten als erste die Schweizer das Spielfeld. Mit Warmmachübungen können sich die Fußballpioniere also kaum aufgehalten haben. Bei starkem Wind erkämpften sich die Deutschen ein Übergewicht. „Wir harmonierten recht gut, weil wie uns von den süddeutschen Ligaspielen her kannten“, erzählte Schweickert. Das Spiel selbst wird kaum wie der heutige Fußball ausgesehen haben. „Wie spielten denn unsere Väter?“, hob mal Hennes Weisweiler zu einer Erklärung an. „Der Ball wurde möglichst weit nach vorne geschlagen, um dann hinterher zu rennen und irgendwie zum Torschuss zu kommen.“

Dennoch entwickelte sich ein aufregendes Spiel. „In flottem Tempo wogte der Kampf auf und ab“, kommentierte der Reporter des „Karlsruher Tagblatts“. Sein Kollege von der „Badischen Landeszeitung“ scheint schon für andere Schlachten zu üben. Er beschreibt den Führungstreffer so: „4 Uhr 20 Minuten. Endlich glückte es Kipp in einem hartnäckigen und aufregenden Nahkampf, den Ball durch das feindliche Tor zu treiben.“

Zum Abschluss ein Festbankett mit Sängerwettstreit

Doch der martialische Ton täuscht. Das ganze Treffen war durch ausgesprochene Fairness geprägt. Laut dem Zeitzeugen Schweickert erhielt jeder Schweizer Spieler sogar einen Begleiter zur Seite gestellt, der ihn über seinen deutschen Gegenspieler aufklärte. In der Halbzeit blieben die Spieler auf dem Platz. „Zum Teil redeten wir uns sehr höflich mit ‚Sie’ an“, gab Schweickert weitere kuriose Einblicke.

Nach der Pause versuchten es die Deutschen immer mehr mit Einzelaktionen, ein weiterer Treffer fiel nicht mehr. Deutschland hatte zum ersten Mal ein Länderspiel gewonnen. Zu Ende ging der Tag mit einem Festbankett, bei dem ein Hofopernsänger auftrat. Die Spieler traten noch mal gegeneinander an – in einem Sängerwettstreit: „Die Schweizer jodelten und wir schmetterten unsere Fußballlieder: Unentschieden“, schloss Schweickert seine Schilderungen.