Man kann sich in der Tat fragen, was da ausgelöst wird mit einem ganz neuen Modell von Umgang mit Großprojekten, von Umgang in der Demokratie miteinander. Des Umgangs von gewählten Politikern, der Funktionäre in der viel beschworenen repräsentativen Demokratie mit dem "Demos", nach der altgriechischen Herkunft übersetzbar mit "Gemeinde", oder schlicht gesagt: dem Volk. Die "Vox populi", die Stimme des Volkes gilt zudem als ein geflügeltes Wort für die öffentliche Meinung - die nicht automatisch mit der veröffentlichten Meinung verwechselt werden darf.
"Vox populi, vox Rindvieh", soll einst angeblich der rustikal herrschende Bayernfürst Franz-Josef Strauß, seines Zeichens lange Jahre CSU-Chef und bayerischer Ministerpräsident, gesagt haben - in Ableitung der Sentenz "vox populi, vox dei". Ein Satz der sich im Ursprung auf die Bedeutung "Volkes Stimme ist Gottes Stimme" zurückführen lässt. Die Strauß'scher Diktion aber will sagen: Wer auf das Volk hört, ist ein Rindvieh. Und doch hat Strauß mehr als einmal, ähnlich wie sein Nach-Nachfolger Horst Seehofer, dem "Volk aufs Maul geschaut".
In Stuttgart ist das aber offenbar nicht so häufig in Gebrauch. All jenen, die jetzt meinen aus Berlin oder gar aus Sicht internationaler Organisationen wohlmeinende Ratschläge geben zu müssen, sei gesagt: erst mal die Faktenlage zur Entscheidungsfindung nach 1994 anschauen. Da ist tatsächlich nicht alles astrein und "sauber demokratisch legitimiert" abgelaufen. Die Süddeutsche Zeitung gab dieser Tage - aus geziemender Distanz - "die unheilbaren Mängel" bei der Geburt des Projekts Stuttgart 21 zum Besten. Da gab es manche Hauruck-Aktion, manche Überrumpelung des "Vox populi". Vermeintliche Beteiligung des Wahlbürgers entpuppt sich im Nachhinein als ein Kauf von "der Katze im Sack".
2004 war im Stuttgarter OB-Wahlkampf versprochen worden - ein Deal zwischen dem amtierenden und wiedergewählten Rathauschef Wolfgang Schuster (CDU), und dem unterlegenden Gegenbewerber Boris Palmer (Grüne), der daraufhin zurück zog - dass ein Bürgerentscheid kommen solle, wenn das Projekt sich "um mehr als einhundert Millionen Euro teurer würde". Davon wollte Schuster, wollten CDU und andere nach der OB-Wahl aber nichts mehr wissen.
Das ist dabei aber nur ein Mosaik von vielen.
Wer behauptet, die Stuttgarter Bevölkerung und die Protestbewegung, die sich bis ins Umland hinaus zieht, habe Kritik zur rechten Zeit verpasst, hat sich nicht mit den Stuttgarter Verhältnissen beschäftigt. Die Unterstellung, dem heutigen Konflikt sei ein hinreichender Zeitraum demokratisch offener Entscheidungsfindung vorausgegangen, ist historisch schlichtweg falsch. Das wissen die Kritiker, andere unterschlagen es. Insofern ist Geisslers Bahnhofsmission, wie sie doppeldeutig (und fast sybillinisch) genannt wird, zu wichtigen Anteilen ein Nachholen der in Jahren zuvor unzureichend durchgeführten Beteiligung an einem gigantischen Großprojekt. Oder wie es Geißler deutlich und plastisch zugleich sagte: "Die Zeit der Basta-Entscheidungen" sei unwiderruflich vorbei. Weil in der Sache kein Kompromiss möglich ist, der Bahnhof nur gebaut, oder eben belassen werden kann, wie er ist, wird ein Volksentscheid - wie das die SPD vorschlug - nach Abschluss des Schlichtungsverfahrens nicht ausbleiben können. Anders kann sich die Situation nicht befrieden lassen.
Ein: "Gut, dass mer geschwätzt hän", wird da nicht ausreichen.
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