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Protest vor 25 Jahren

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Protest vor 25 Jahren

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    Ohne Luftballons und eine ausgesprochen mobile Motorradgang hätte es nicht funktioniert. Und ohne die spontanen Besetzungen vielleicht auch nicht. Deutsche Friedensaktivisten kaperten am 22. Oktober 1983 ein paar Dutzend Telefonzellen zwischen Stuttgart und Neu-Ulm. Eine in jedem Dorf und jedem Städtchen entlang der Strecke, an der das scheinbar Unmögliche möglich wurde.

    108 Kilometer, ein Demonstrant pro Meter = 108.000 Menschen

    Anfangs wurde Ulli Thiel noch belächelt. Selbst manche seiner Freunde aus der Friedensbewegung hielten die Idee des damals 34-jährigen Karlsruher Sonderschullehrers für undurchführbar. Eine Menschenkette von Stuttgart nach Neu-Ulm aus Protest gegen die seinerzeit geplante Stationierung von Pershing-Mittelstreckenraketen. Die Raketen kamen, und die Menschenkette kam auch.

    Thiel hatte es durchdacht und durchgerechnet. 108 Kilometer, ein Demonstrant pro Meter macht mindestens 108.000 Menschen - jeder nimmt jeden bei der Hand, dann wäre die Kette geschlossen. Längst ist dieser sogenannte "Kettenschluss" nach der Idee des Karlsruher Sonderschullehrers in die Geschichte der Friedensbewegung eingegangen. Fast 400.000 Menschen waren an jenem strahlenden Oktobertag auf die Alb gekommen. In 2.000 Bussen und mit 50 Sonderzügen. Die Bahn musste Waggons von ihren französischen Kollegen ordern, um den Ansturm zu verkraften. So hatte es sich Ulli Thiel erträumt. Ein machtvoller Protest "Mensch an Mensch", wie er heute erzählt.

    "Die legen mir das Land nicht lahm"

    Die 108 Kilometer lange Menschenkette vor 25 Jahren (Foto: Lebenshaus-Alb)

    Ganz geheuer war der Mitbegründer der Deutschen Friedensgesellschaft dem Staat in jenen aufgeregten Zeiten nie gewesen. Den Schulbehörden war der Lehrer ein Dorn im Auge. Ein paar peinlich berührte Polizisten klingelten eines Tages an seiner Haustür im Karlsruher Westen, präsentierten einen Durchsuchungsbefehl, filzten seine Wohnung und beschlagnahmten ein paar Flugblätter, weil angeblich der Verdacht bestand, Thiel würde zu rechtswidrigen Aktionen aufrufen. Da, so erinnert sich Thiel, "glaubten ein paar Schulräte: jetzt haben wir ihn". Aber es hatte keine aufrührerischen Dokumente gegeben, schon gar keine verbotenen, und so wurde das Verfahren eingestellt.

    Ein mächtiger Innenminister namens Roman Herzog schäumte zu Beginn der Diskussionen um die Menschenkette vor Wut und erklärte: "Die legen mir das Land nicht lahm." Die, das waren die Organisatoren um Thiel & Co., und sie haben an diesem Herbsttag im Oktober 1983 das Land nicht lahmgelegt, sondern womöglich aufgeweckt. Ein riesiges, fröhliches Happening mit ein paar Hunderttausend Teilnehmern aus ganz Europa und mit vielen bunten Luftballons, die nicht ganz zufällig verteilt worden waren. Die Blauen sollten auf den Westteil der Strecke, die Farbe Orange in den Osten. Es funktionierte. Dank der Informationskette aus den besetzten Telefonzellen, dank einer Motorradgang namens Kuhle Wampe, die seinerzeit im kleinen Friedenskreis das Mobile Einsatzkommando genannt worden war, weil sie schnell zur Stelle hätte sein können, um Lücken in der Kette zu schließen.

    Geistesblitz Thiels: "Frieden schaffen ohne Waffen"

    Tatsächlich gab es keine Lücken in dieser großen "Volksversammlung", wie Thiel und Freunde die Demo nannten. Und selbst die Polizei war von der logistischen Meisterleistung der Organisatoren mächtig beeindruckt. Einer ihrer Chefs flüsterte dem Sonderschullehrer aus Karlsruhe später einen Satz zu, dass dem Hören und Sehen verging: "Wer so ein Großereignis organisieren kann, den hätten wir gerne in unseren Reihen." Ulli Thiel zog vor zu bleiben, wo er war.

    Bis heute. So sehr er sich über die Geschichte der Menschenkette freut oder über jenen Geistesblitz eines schönen Sommertages im Juni 1978, als ihm das Motto "Frieden schaffen ohne Waffen" eingefallen war, so viel bleibt für ihn noch zu tun. Denn nach dem Ende des Kalten Krieges sei mit kritischem Blick auf deutsche Soldaten in Afghanistan eben "nicht alles besser geworden".

    [Meinrad Heck ist Karlsruher Korrespondent der "Stuttgarter Zeitung". Der Beitrag erschien dort am Dienstag, 21. Oktober. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.]

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