Hat sich die Kanzlerin schon bei Ihnen gemeldet?", fragte Cicero-Chefredakteur Christoph Schwennicke bei der Veranstaltung im Hinblick auf den schiefen Koalitionsfrieden in Berlin seit der Edathy-Affäre. Immerhin sei Kretschmann doch Merkels "Lieblings-Grüner". Mit solchen und ähnlichen humorvollen Anspielungen stieg Schwennicke sofort in das Thema ein, das in aus bundespolitischer Sicht wohl am meisten interessieren dürfte: Wann und wie wird Kretschmann in die ganz große Politik einsteigen?
Doch der grüne Landeschef versuchte jegliche Fragen in diese Richtung ebenso humorvoll wenn auch entschieden zu kontern: "Es läuft doch gut in der großen Koalition." Berlin wäre nicht sein Metier, so Kretschmann. Man müsse wissen, wo man hin gehört: "Es war nie meine Absicht, Bundespolitiker zu werden. Das war eine bewusste Entscheidung und die bereue ich keinen einzigen Tag."
Länder sind heute selbstbewusster
Aber wäre die grüne Stimme im Bund mit seiner Unterstützung nicht stärker, bohrt Schwennicke nach. "Der neue Bundestag hat gerade erst mit seiner Arbeit angefangen. Wir müssen da jetzt nicht sofort in die Vollen gehen", meint Kretschmann. Die Grünen hätten einen langen Atem. Als bisher größten "Erfolg" seiner Partei auf Bundesebene nennt er die Kritik "am großen Ungleichgewicht", das die große Koalition mit ihrem Schwerpunkt auf Rentenerhöhungen schaffe. Das schade den Jungen und damit auch der Zukunft des Landes. Kretschmann räumt ein, dass die Grünen nur eine kleine Oppositionspartei im Bundestag darstellten, "aber wir immerhin regieren auch in sieben Ländern mit. Wir sind also auch stark."
Dabei seien Länderchefposten im Gegensatz zu früher nicht mehr so häufig ein Sprungbrett für die Karriere im Bund. "Wir Länder nehmen uns heute sehr selbstbewusst wahr. Landespolitik ist der Bundespolitik nicht untergeordnet", sagt Kretschmann. Deutschland sei ein "wohlgeordnetes, förderales Gemeinwesen", da sei bei Vielen in der Wahrnehmung etwas "falsch geortet": "Wir sind eben nicht zentralisiert wie etwa in Frankreich und daran sollte man mal Geschmack finden", so der Ministerpräsident. Ihm persönlich sage eben die Landesebene zu. Die Themen seien hier oft ganz andere als im Bund.
Schwierige Baustelle Bildungssystem
Eines jener Länderthemen ist zur Zeit der Umbau des Bildungssystems: Die baden-württembergische Regierung will Gemeinschaftsschulen, Ganztagsschulen und Inklusion fördern, gleichzeitig aber auch Lehrerstellen abbauen. Letzteres rechtfertigte Kretschmann mit dem demographischen Wandel, infolgedessen Kinder- und damit Schülerzahlen sänken, sowie mit der ebenfalls wichtigen Sanierung der Landesfinanzen. "Wenn Sie sparen müssen und Ihr Haushalt zu 43 Prozent aus Personalkosten besteht, dann können Sie an denen nicht vorbeisanieren", meint Kretschmann. Man dürfe aber nicht übersehen, dass Lehrerstellen nur um zehn Prozent abgebaut würden, wärend man auf Schülerseite mit einem doppelt so starken Rückgang rechnet: "Wir haben mit Abstand das beste Schüler-Lehrer-Verhältnis aller Länder", betont Kretschmann.
Das Bildungssystem sei in der Tat eine "schwierige Baustelle" und beim Umbau anfangs einiges schiefgelaufen. Probleme bestünden vor allem bei der "Ressourcensteuerung", die habe aber vor allem die Vorgängerregierung schleifen lassen. "Wir müssen die oftmals diffuse Kritik jetzt konkretisieren und von einer Quantitäts- zu einer Qualitätsdebatte kommen", hofft der Landeschef. Baden-Württemberg sei nicht dadurch stark geworden, immer alles gleich zu machen, sondern durch Innovation. Die Bildungsdebatte im Foyer des ZKM nutzten auch Mitglieder des Regionalverbandes "Autismus Karlsruhe e.V.", um sich mit einem offenen Brief an den Ministerpräsidenten zu wenden. Der Verein fordert, Vertreter von Eltern mit behinderten Kindern wieder direkt an Beratungen über Inklusionsfragen zu beteiligen. Kretschmann hat den Brief nach eigenen Angaben bereits erhalten und versprach eine Antwort.
Die Homo-Debatte in Baden-Württemberg: Ein Kulturkampf?
Ein weiteres Thema war die Debatte um den Aufklärungsunterricht in Baden-Württemberg. Eine Online-Petition gegen dessen liberale Ausrichtung hat bisher rund 200.000 Unterschriften im Land gesammelt. "Ich gebe zu, das hat mich überrascht", sagt Kretschmann. Der Widerstand habe mitunter Formen eines regelrechten "Kulturkampfes" angenommen. "So etwas besorgt mich. Das Dokument, das so viel Unmut ausgelöst hat, ist doch nur ein Arbeitspapier. Ich habe es selbst gelesen und ehrlich gesagt, ist mir daran nichts Besonderes aufgefallen", so der Ministerpräsident. Am bisherigen Aufklärungsunterricht werde sich nichts Gravierendes ändern. "Diese Ausrichtung gegen sexuelle Diskriminierung gibt es eigentlich schon seit 19 Jahren - ich verstehe nicht, warum das vorher nicht so hohe Wellen geschlagen", meint Kretschmann.
Aufklärung bedeute selbstständiges Denken und eigene Standpunkte zu entwickeln, sowie die von anderen zu akzeptieren. "Das gehärt zum Pluralismus in einer liberalen Gesellschaft", so der Grünenpolitiker, wofür er großen Applaus im Saal erntet. Die Vorwürfe der Petitions-Anhänger einer "moralischen und pädagogischen Umerziehung" weist Kretschmann empört zurück: "Das rückt uns schon in die Nähe totalitärer Regime. Zivilisierter Streit hält Gesellschaften zusammen, aber unzivilierter Streit kann genau das Gegenteil bewirken." Dass ihnen der baden-württembergische CDU-Fraktionschef Hauk auch noch "Gesinnungsterrorismus" vorwerfe, gieße hier nur Öl ins Feuer.