Wegschauen hilft nicht, wenn der Ekel "hoch kommt". Es wäre auch falsch, lediglich von einer Hetzjagd zu sprechen, die insbesondere die katholische Kirche im Fokus hat. Angesprochen ist hier eine ganze Gesellschaft. Richtig ist: an jenem 28. Januar wurde bekannt, dass an dem von Jesuiten betriebenen katholischen Canisius-Kolleg in Berlin-Tiergarten über Jahrzehnte hinweg Schüler eines Elitegymnasiums von Lehrern sexuell missbraucht worden sind.
Die Liste wird seitdem von Tag zu Tag länger, der Bann, die Scham ist gefallen: Betroffen sind auch evangelische Einrichtungen, etwa die Internatsschule Schloss Gaienhofen (Kreis Konstanz) und das, in "freier Trägerschaft" geführte südhessische Internat Odenwaldschule, das sich, was paradox genug ist, als Hort der "Reformpädagogik" gerierte.
Es ist wohl richtig, dass die katholische Kirche unter enormen strukturellen Defiziten leidet, unter einer verklemmten Sexualmoral, einem längst überholten Festhalten an "dem Muss" einer nicht-zeitgemäßen Zölibats-Pflicht. Wenn Priester in Ehelosigkeit leben, mag das deren freie Entscheidung sein.
Missbrauch wurde lange Zeit vertuscht
Aber eine so geprägte Kirche bietet leider auch leicht Unterschlupf für Männer, die im normalen Leben nicht beziehungsfähig sind. Aber weder ist der Zölibat die Ursache von Missbrauch an unschuldigen und wehrlosen Kindern, noch ist das außerhalb von Kirchenmauern gleichermaßen und zahlenmäßig noch viel stärker vorfindbare Problem wegzudiskutieren. Das Problem liegt tiefer. Es ist das Problem einer ganzen Gesellschaft, vor allem der geschlossenen Systeme.
Nach dem Weltkrieg und noch bis in die 80er Jahre hinein wurden junge Menschen in Internaten Opfer von Gewalt oder aber von sexuellem Missbrauch. Allzu lange wurde das wissentlich vertuscht. Es ist kein Zufall, dass die Mauer des Schweigens gerade jetzt fällt. Die Täter sind inzwischen krank, alt oder tot und haben ihre einstigen Machtpositionen verloren. In vielen der aktuellen Berichte der Zeugen ist aber auch davon die Rede, dass die eigenen Eltern die damaligen Aussagen der Kinder nicht ernst genommen hätten. "Über so etwas" redete man nicht.
Unkontrollierte und ungezügelte Macht einerseits und Machtmissbrauch andererseits
Das Phänomen einer in sich zusammenfallenden Mauer des Schweigens ist dabei nicht neu. Auch das Entsetzen über die weit schlimmeren Verbrechen all "der kleinen Nazis" brach sich in Deutschland öffentlich erst Bahn, als die Täter die Debatte nicht mehr selbst beeinflussen konnten. Erst von diesem Augenblick an wurden die gesellschaftliche Verdrängung des Unrechts, das Vertuschen und die Verharmlosung abgelöst von einhelliger Verurteilung und Empörung. Dazu kommt bei den Missbrauchsopfern in Schulen und Kirche: Viele Opfer hatten es lange Zeit nicht vermocht, sich überhaupt jemandem anzuvertrauen. Kardinal Karl Lehmann hat es am Osterwochenende für die katholische Kirche so beschrieben: den Versuch "durch schnelles Abwehren und Verdecken eines Verdachts oder gar einer Verfehlung die Institution Kirche, und gerade auch Amtspersonen, unter allen Umständen vor einem Makel zu bewahren". Was die südhessische Odenwaldschule angeht, hatte eine ihrer prominentesten Zöglinge, die Schriftstellerin Amelie Fried in einem Gastbeitrag in der FAZ zurecht eine vollständige Aufarbeitung der Geschehnisse sowie eine persönliche Entschuldigung des Hauptverantwortlichen gefordert. Unkontrollierte und ungezügelte Macht einerseits und die Gewalt als die extremste Form des Machtmissbrauchs sind zwei Seiten derselben Medaille. Das war schon immer so, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Institutionen, die sich von der restlichen Gesellschaft abkapseln, sind anfällig für interne Hierarchien von Macht und Ohnmacht. Ob nun autoritär vorgegeben oder eher informeller Art, ist dabei fast zweitrangig. Geschlossene Systeme, in denen Menschen nicht freiwillig eng beieinander leben, aufeinander angewiesen und voneinander abhängig sind, verleiten immer wieder zu Machtmissbrauch.
Auch Familien sind nach wie vor überwiegend geschlossene Systeme
Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe hat es 1953 als vom "Züchtigungsrecht" der Eltern abgedeckt empfunden, "einer aufsässigen und ungebärdigen Tochter die Haare zu scheren und sie an einen Stuhl festzubinden". Diese höchstrichterliche Billigung von Gewalt geschah öffentlich, nicht hinter Klostermauern. Es war Ausdruck des damals geltenden Konsenses, des Zeitverständnisses. Keiner hatte sich darüber aufgeregt. Man darf aber dabei aber nicht leichtfertig Gewalt in der Erziehung auf die gleiche Ebene stellen, wie sexuellen Missbrauch an Minderjährigen. Auch Familien sind nach wie vor überwiegend geschlossene Systeme. Die meisten Fälle von Gewalt gegen Jugendliche und von sexuellem Missbrauch geschahen damals und geschehen heute noch in den Familien. Die meisten dieser Fälle bleiben unentdeckt. Auch das gehört zur Wahrheit dazu.