Ein Selbstversuch von Moritz Damm
Der Tritt in die Straßenbahn, der Griff in das Supermarktregal oder über die Theke. Alltägliche Handlungen, die ich schon hundert Mal gemacht, über die ich aber bisher noch kein einziges Mal bewusst nachgedacht habe. Wie erfahren Menschen im Rollstuhl diese Situationen? Welche Hürden müssen Sie im Alltag überwinden? Welche Hindernisse gibt es in Karlsruhe? Diesen Fragen möchte ich nachgehen und erkunde daher die Fächerstadt im Rollstuhl.
Das städtische Klinikum erklärt sich bereit, mir einen Rollstuhl auszuleihen. Ich kann nun die Stadt aus der Perspektive eines Rollstuhlfahrers erkunden. Und vorab: Es wird wesentlich beschwerlicher, als ich es mir vorgestellt habe.
Ich stehe an der Haltestelle "Städtisches Klinikum Moltkestraße" und möchte in die Innenstadt. Die nächste Bahn kommt in zehn Minuten. "Wird ja wohl kein Problem sein, da rein zu kommen", denke ich noch. Als die Bahn vor mir die Türen öffnet, klafft ein Abstand von etwa 15 Zentimetern zwischen Bordstein und Trittbrett. Alleine komme ich nicht in die Bahn. Doch zwei Männer eilen mir zu Hilfe und hieven mich hinein. Ich habe Angst, dass ich aus dem Rollstuhl falle. Doch ich muss den beiden mir wildfremden Personen vertrauen. Ich habe keine Wahl.
Unüberwindbare Stufen - enge Flure
Wie komme ich jetzt in die Innenstadt?Gibt es eine Haltestelle, an der ich selbstständig und ohne Hilfe aussteigen kann? Später werde ich erfahren, dass es in der Innenstadt momentan nur zwei Haltestellen gibt, bei denen Rollstuhlfahrer aus eigener Kraft aussteigen können:An den Haltestellen Europaplatz und Herrenstraße. Ich fahre also bis zum Bahnhof. Hier lupft mich eine junge Frau aus der Bahn. Nachdem ich wieder nur mit fremder Hilfe in die Linie 3 gekommen bin, kann ich schließlich alleine am Europaplatz aussteigen. Ich bin erstaunt, wie wenige rollstuhlgerechte Haltestellen es in der Innenstadt gibt.
Nun beginne ich einen kleinen Einkaufsbummel. Doch ich komme in die wenigsten Geschäfte selbstständig hinein. Bei vielen Läden versperrt mir eine unüberwindbare Stufe den Zugang. Auch hier muss ich wieder unbekannte Passanten oder Angestellte ansprechen, damit ich ins Innere gelange. Häufig ist es zwischen den Regalen sehr eng, ich kann mich mit meinem Rollstuhl kaum bewegen.
Vertrauen in wildfremde Personen
In größeren Kaufhäusern finde ich mich leichter zurecht. Die Flure sind breiter und es gibt Aufzüge. Doch in so manchem Kaufhaus, das rollstuhlgerecht eingerichtet ist, wird der Zugang durch große Glastüren erschwert. Ich versuche alleine die Türen zu öffnen. Alle Mühe hilft nichts. Schließlich hält mir eine Frau die Tür auf. Eine wichtige Erfahrung an diesem Tag habe ich schon jetzt gemacht: Die Menschen sind mir gegenüber sehr hilfsbereit.
So hilft mir auch eine junge Frau im Supermarkt. Denn die Produkte oben auf dem Regal erreiche ich auch nach merhmaligem Strecken nicht. Das Regal ist einfach zu hoch. Es stört mich, ständig fremde Personen um Hilfe zu bitten. Es ist mir unangenehm.
Nur 66 Geschäfte "barrierefrei zugänglich"
Dies bestätigt mir auch die Vorsitzende des Beirats für Menschen mit Behinderung der Stadt Karlsruhe, Stefanie Ritzmann: "Die Menschen helfen wo sie können. Aber manchmal ist es einfach unangenehm, sich Fremden anzuvertrauen und sich helfen zu lassen. Man möchte einfach selbstständig sein, wenn man unterwegs ist."
Auch nimmt mir Ritzmann meine Bedenken, dass Menschen mit Behinderung den Selbstversuch kritisieren könnten. "Ich finde es sehr gut, wenn Menschen ohne Behinderung einmal den Alltag aus der Sicht eines Rollstuhlfahrers wahrnehmen und so die alltäglichen Probleme erkennen", erklärt Ritzmann, die selbst im Rollstuhl sitzt. Denn in Karlsruhe gebe es noch einiges an Nachholbedarf.
Erst kürzlich haben Vertreter des Behindertenbeirats in der Karlsruher Innenstadt und in umliegenden Straßen 170 Geschäfte auf einen barrierefreien Zugang hin überprüft. Nur 66 Geschäfte können demnach als "barrierefrei zugänglich" bezeichnet werden.
Jede kleine Steigung wird zum Kraftakt
Auch der öffentliche Nahverkehr sei nach wie vor ein schwieriges Thema, sagt Ritzmann. "Karlsruhe ist keine komplett barrierefreie Stadt, aber wir sind auf einem guten Weg dahin", erklärt Martina Warth-Loos, Behindertenkoordinatorin der Stadt. Ziel der Stadt Karlsruhe sei es, bis 2015 durch barrierefreie Zugänge in der Stadt und im öffentlichen Nahverkehr Rollstuhlfahrern einen uneingeschränkten Zugang zu allen Einrichtungen und Geschäften zu ermöglichen.
Ich bewege mich durch die Hektik der Innenstadt. Und es ist verdammt anstrengend. Wechselnder Bodenbelag, Asphalt, Pflastersteine, Kies.Ich spüre jede Bodenwelle und jedes kleine Loch im Asphalt, aber ich spüre auch die Blicke der Menschen. Einige wirken so, als schauten sie mich mitleidig an, andere gaffen neugierig. Jede kleine Steigungen wird für mich zum Kraftakt. Ich spüre jede Schräge und muss kräftig gegensteuern.
Es muss noch viel passieren in Karlsruhe
Ich komme an einer Bäckerei vorbei. Die Theke erreiche ich nicht. Die Bedienung reicht mir die Geldschale mit Wechselgeld. Nun beschließe ich, mich etwas im Schlossgarten auszuruhen. Die Reifen meines Rollstuhls kämpfen sich durch den Kies. Meine Arme sind erschöpft. Ich mache eine Pause und erhole mich von der Strapaze.
Mein bisheriges Fazit: Es ist sehr beschwerlich sich mit dem Rollstuhl durch Karlsruhe zu bewegen. Ob die Stufen vor Geschäften, die vergebliche Suche nach Behindertentoiletten in Restaurants oder das beschwerliche Einsteigen in Bahnen. Dass städtische und öffentliche Gebäude gut über Rampen zugänglich sind, ist zwar ein Anfang, aber es muss noch viel passieren in Karlsruhe, bis die Fächerstadt Rollstuhlfahrern einen uneingeschränkten Zugang zu Geschäften und dem öffentlichen Nahverkehr garantieren kann. Ritzmann drückt das so aus: "Wir Behinderten müssen eben geduldig sein."