Eine Reportage von Moritz Damm
Das Martinshorn dröhnt auf dem Dach. Der Rettungswagen (RTW) schlängelt sich an einer roten Ampel an wartenden Autos vorbei. Ich schaukle hin und her. Hupen. Ausweichmanöver. Wir holpern über eine Kreuzung und schießen um eine Kurve. Ich versuche zu erkennen, wo wir uns befinden - es geht zu schnell. Die Reifen quietschen; der Wagen stoppt abrupt. Mein Puls liegt bei 120. Rettungssanitäter Daniel Graf reißt die Seitentür des Rettungswagens auf, holt den Notfall-Koffer heraus und kämpft sich durch eine Menschentraube. Ich folge ihm. Für zwölf Stunden begleite ich die Lebensretter auf Schritt und Tritt.
Entscheidungen in Sekunden - jeder Handgriff sitzt
Auf einer Bank liegt eine ältere Dame. Sie ist blass, schwitzt und atmet schwer. Aufgeregte Passanten stehen daneben. Rettungsassistent Volker Kwizinski spricht die Frau an. Sie ist bei Bewusstsein. Graf holt die Trage.
Die Frau wird auf die Trage gehoben und für weitere Untersuchungen in den Rettungswagen gebracht, um sie vor den Blicken neugieriger Passanten zu schützen. Auch der Notarzt ist bereits eingetroffen. Das Team beginnt im RTW mit der Erstversorgung auf engstem Raum. Um die Liege herum ist nicht mehr Platz als in einem Schlauchboot.
Die Retter schließen Geräte an, legen Infusionen und ziehen eine Spritze auf. Es pfeift und piepst. Ich habe den Überblick verloren. Überall Schläuche und Medikamente. Für mich herrscht das pure Chaos - das Rettungsteam bewahrt Ruhe. Die Retter treffen Entscheidungen in Sekunden. Jeder Handgriff sitzt. Die Absprachen stimmen.
Jeden Moment kann ein Notruf eintreffen
Kurze Zeit später ist klar: Es besteht keine Lebensgefahr. Möglicherweise ist die Frau unterzuckert und daher kollabiert. Große Eile ist nun nicht mehr geboten. Dennoch wird die Frau zur genauen Abklärung in das Städtische Klinikum gebracht und dem Klinikpersonal übergeben. Die Sanitäter bekommen einen Transportschein, dieser ist wichtig für die spätere Abrechnung mit der Krankenkasse. Graf füllt das Einsatzprotokoll aus. Die Liege wird frisch bezogen, die Geräte verstaut. Es ist jetzt 11.01 Uhr. Der RTW 1/83-6 steht wieder einsatzbereit in der Tiefgarage des Städtischen Klinikums.
Neben zwei Krankentransporten war das der erste Notfalleinsatz am heutigen Tag für die Besatzung des RTW 1/83-6. Wir sind bereits seit sieben Uhr unterwegs. Jetzt kehren wir in die Hauptwache des Deutschen Roten Kreuz (DRK) in Neureut zurück. Hier stehen fünf RTW und sechs KTW (Krankentransportwagen), einsetzbar im gesamten Stadtgebiet. Die Hauptwache ist mit einer Küche, Umkleiden, Duschen, einem Fernsehzimmer und Schlafmöglichkeiten ausgestattet.
Nun heißt es abwarten, Zeitung lesen oder Kaffee trinken - immer mit dem Wissen, dass jeden Moment die Ruhe durch einen Notruf unterbrochen werden kann. Im Hintergrund läuft das Funkgerät. Rauschen, klicken, knacksen, piepen. Kwizinski und Graf sind immer mit einem Ohr am Funkgerät, um keinen wichtigen Funkspruch zu verpassen.
"Haben wir alles getan?"
"Das ist bisher eine sehr ruhige Schicht", meint Kwizinski, der von seinen Kollegen nur "Kiwi" genannt wird. Der 45-jährige ist ein alter Hase im Rettungswesen. Seit 20 Jahren ist er hauptamtlich im Rettungsdienst tätig. Sein 26-jähriger Kollege Daniel Graf arbeitet seit etwa zwei Jahren ehrenamtlich an den Wochenenden als Rettungssanitäter. "Schichten, die ruhig beginnen, werden im Laufe des Tage meist turbulent", weiß Kiwi aus Erfahrung. Er sollte recht behalten.
Ich nutze die Zeit des Wartens und frage die beiden Retter nach ihren Erfahrungen. Was war ihr schlimmstes Erlebnis, möchte ich wissen. "Bei einem Unfall musste ich zugucken, wie ein Mensch bei lebendigem Leibe verbrannt ist. Wir konnten nichts tun. Das war sehr schlimm", sagt Kiwi. Er habe zwar keine schlaflosen Nächte, aber manchmal denke er noch daran, obwohl das tragische Ereignis schon Jahre zurückliegt.
Wie geht ein Mensch mit so einem schrecklichen Erlebnis um? Jeder hat da seine eigenen Wege, sagen die Retter. Manche möchten darüber reden, andere lieber nicht. Es gibt auch die Möglichkeit mit Psychologen über solche Geschehnisse zu sprechen. Dafür haben sie auf der Hauptwache Verständnis. "Ich persönlich stelle mir die Frage: Haben wir aus notfallmedizinischer Sicht alles getan? Wenn das zutrifft und wir dennoch keinen Erfolg hatten, dann sollte es - leider Gottes - nicht anders sein. Keiner lebt ewig", sagt Kwizinski.
"Es sind die leisen Töne, die einen beschäftigen"
Unser Gespräch wird unterbrochen. Es ist 11.36 Uhr. Die Leitstelle fordert einen RTW an, eine Frau sei im Treppenhaus beim Putzen gestürzt. Verdacht auf eine Beinbruch. Wir rücken aus. Die Wohnung der Frau befindet sich im vierten Stock. Zum Glück gibt es einen Aufzug. Mit dem 25 Kilo schweren Transportstuhl wird fast jeder zur 100-Kilo-Person, sagt Graf. Die Frau wird zum Röntgen in die Orthopädie gebracht. Für die Männer vom Rettungsdienst ist das körperlich schwere Arbeit. Auch das gehört zum Alltag der Lebensretter.
Nachdem die Frau in der Orthopädie versorgt ist, essen wir in der Kantine der Orthopädie zu Mittag. Es ist jetzt 12.20 Uhr. Im Rettungsdienst wünschen sie sich einen "störungsfreien" Mittag. Denn es sei selten, dass sie ein komplettes Mittagessen schaffen, sagt Kiwi. "Hier lernt man schnelles Essen."
Stumpfen die Retter eigentlich durch den häufigen Anblick schrecklicher Bilder ab? "Nein, abstumpfen würde ich nicht sagen. Ich spreche lieber von beruflicher Routine", sagt Kiwi. Es sei vor allem die Erfahrung, die einem hilft in chaotischen Situationen die Ruhe zu bewahren. Das Bauchgefühl sage einem schnell, ob es sich wirklich um eine dramatischen Situation handelt oder eben nicht. Häufig seien Unfälle bei denen viel Blut fließt und Menschen hysterisch anrufen weniger dramatisch als sie wirken. Geschichten, die nach außen gar nicht so bedrohlich erscheinen, seien häufig tragischer. "Es sind die leisen Töne, die einen beschäftigen", erzählt Kiwi.
Menschliche Tragödien jeden Tag
Er meint damit Schicksale wie das des alten Mannes, den wir ins Pflegeheim bringen und der vielleicht das letzte Mal in seiner eigenen Wohnung war. Oder die traurige Geschichte des 66-jährigen, der seit über acht Jahren an Demenz leidet. Er steht verwirrt an der Treppe im Obergeschoss seines Hauses. Er kann nicht vor und zurück und nimmt seine Umgebung kaum wahr. Kwizinski und Graf müssen ihm lange gut zureden, damit er mit uns die Treppe hinabsteigt und mit zur Behandlung in die Psychiatrie fährt. Seine Frau weint bitterlich, erträgt den Anblick kaum. Sie erzählt Kwizinski aus der Vergangenheit. Ihr Mann war sportlich, erfolgreich im Beruf und hatte viele Freunde - das ist alles vorbei. Bereits mit 58 Jahren begann die Demenz.
Es ist der Blick hinter die Kulissen. Eben diese menschlichen Tragödien in den heimischen vier Wänden, die einen nachdenklich stimmen, sagt Kiwi. Für uns Rettungsassistenten ist es ein Einsatz unter vielen. Für den Patienten ist es das Schicksal. Ein Unfall oder eine Krankheit können das Leben für immer verändern. Doch die Männer vom RTW 1/83-6 denken nicht lange an diese Tragik. Dafür haben sie auch keine Zeit, der nächste Einsatz kommt zu schnell.
"Mobile Intensivstation" mit 170 PS
Ab 14 Uhr sind wir im Dauereinsatz: Beinbruch, unerträgliche Rückenschmerzen, Schlaganfall und der Sturz einer alkoholisierten Frau. Kwizinski und Graf machen routiniert ihre Arbeit. Sie sind mit ihrer "mobilen Intensivstation" auf alles vorbereitet.
"Im bundesweiten Vergleich dürfen wir uns über die Ausstattung unserer Rettungswagen wirklich nicht beschweren", lobt Kiwi. Vom Absauggerät über das Beatmungsgerät bis hin zum Defibrillator ist alles vorhanden um den Kreislauf zu überwachen, zu stabilisieren oder wiederherzustellen. Ein Fahrzeug kostet etwa 130.000 Euro und wiegt rund 5,5 Tonnen. Durch die 170 PS sind Höchstgeschwindigkeiten von bis zu 140 Km/h möglich. Doch die Retter betonen: Mit Sondersignal fahren sei kein Freifahrtschein für schnelles fahren und immer ein Risiko. "Wir fahren auf Ankommen und nicht auf Sieg. Bei einem Unfall wäre keinem geholfen", so Graf.
Notruf kurz vor Feierabend
Insgesamt neun Mal rücken wir mit der "mobilen Intensivstation" an diesem sonnigen Samstag aus. 70 Prozent ihrer täglichen Arbeit sind Krankentransporte, 30 Prozent Notfälle, erzählt Kiwi. Am häufigsten werden sie aber zu Herzinfarkten und Schlaganfällen gerufen. Unter der Woche passieren viele Arbeitsunfälle und am Wochenende seien es vor allem unvernünftige und stark alkoholisierte Jugendliche, die die Rettungskräfte auf Trab halten. Das ärgert Kiwi, denn durch diese Unvernunft werden Rettungskräfte gebunden, die in anderen Notsituationen womöglich fehlen. "Wir werden gerufen, um den Freizeitübermut abzuräumen", sagt Kiwi.
18.22 Uhr: Kurz vor Feierabend ein weitere Notruf. Verdacht auf einen Schlaganfall. Wir sind das nächste verfügbare Fahrzeug und übernehmen den Einsatz. Es zählt wieder jede Minute. Wir rasen mit Blaulicht durch die Stadt. Der Patient wird versorgt und kommt zu weiteren Untersuchungen ins Krankenhaus.
Um 19.40 Uhr verlassen wir nach diesem letzten Noteinsatz schließlich die Hauptwache. "Auch wenn die Arbeit sehr viel Spaß macht, sind wir dann doch froh über den Feierabend", sagt Graf. Ruhig, fast bedächtig, verlassen die beiden Retter die Hauptwache.