Arno Schmidt (Name von der Redaktion geändert) sitzt in seinem zwölf Quadratmeter großen Zimmer. Bilder, Plüschtiere und Fußballschals zieren die Wände. Neben dem Waschbecken läuft ein Fernseher. Arno Schmidt ist Alkoholiker. Seit mehreren Jahren bewohnt er sein Zimmer im ehemaligen Hotel. "Nicht alle Bewohner hängen Bilder auf", bemerkt Jürgen Lampert, Leiter des "Hotel Anker". Für Arno Schmidt ist das allerdings selbstverständlich: "Man will's doch gemütlich haben", lächelt er.
Die Mehrheit der Bewohner ist alkoholkrank
Schmidt ist einer von 29 Bewohnern, die derzeit auf den drei Stockwerken des Gebäudes in Mühlburg wohnen. Der jüngste ist 37, der älteste knapp 80 Jahre alt. Fast alle sind alkoholabhängig und leiden unter psychischen Erkrankungen, die in direkter Verbindung zum Alkohol stehen. Lediglich drei Bewohner haben kein Alkoholproblem, sind aber psychisch schwer krank.
Die Menschen im "Anker" sind nicht in der Lage, sich um sich selbst und um eine Wohnung zu kümmern. Deshalb bekommen sie ein Zimmer in einem der betreuten Einrichtungen der Stadt. Normalerweise beträgt die maximale Aufnahmedauer 18 Monate. Die wird, in den meisten Fällen, auf dem kurzen Dienstweg jährlich erneuert. Viele der "Anker"-Bewohner leben seit mehreren Jahren in dem Haus in Mühlburg.
"Geist, Körper und Seele sind in Auflösung begriffen"
Dort erhalten sie eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung, um die sich zu einem großen Teil Ehrenamtliche kümmern. "Ziel der Unterbringung ist es, eine Grundversorgung zu leisten, um eine weitere Verschlechterung der Lebenssituation zu vermeiden beziehungsweise zu verzögern", erläutert Jürgen Lampert. Die Betreuung umfasst lebenspraktische Unterstützung, Krisenintervention, pflegerische Versorgung mit Tablettenausgabe, Gefahrenabwehr und Sturzprävention, Kontakthalten zu rechtlichen Betreuern, Begleitung zu Ämtern und Arztpraxen, Geldverwaltung auf Wunsch, Ansprache und Zuwendung.
In Karlsruhe leben momentan rund 300 obdachlosenrechtlich untergebrachte Menschen. Sie finden Obdach in Unterkünften, die Sozialarbeiter betreuen. Dies war bis 2002 noch nicht der Fall, als im damals unbetreuten "Hotel Anker" ein Feuer ausbrach, bei dem das zweite Obergeschoss ausbrannte. "Die Stadt Karlsruhe hat inzwischen etwas unternommen und hat Wort gehalten mit der Wohnungsloseninitiative“, freut sich Lampert.
Betreuung sei wichtig für Menschen, die von ihrer Kankheit schwer gezeichnet sind: "Geist, Körper und Seele sind in Auflösung begriffen", beschreibt Lampert den Zustand seiner Klienten. Ihr Tag verläuft ohne große Höhepunkt: "Alkohol macht träge", erklärt der Einrtichtungsleiter. "Sie lebten von einem Rausch in den nächsten." Dabei haben sie keine zeitliche Wahrnehmung mehr. Einige der Bewohner haben seit Jahren das Haus nicht verlassen. Manchmal begleitet der eine oder andere Klient die Betreuer auf einen Spaziergang. Im vergangenen Jahr machten einige Bewohner einen Ausflug in den Zoo.
"Wir versuchen die Menschen über den Tag zu bringen"
Im Alltag leben die Bewohner nebeneinander her - nicht miteinander. Zweimal in der Woche gibt es ein gemeinsames Mittagessen im Gastraum des ehemaligen Hotels. Als Aufenhaltsraum dient dieser allerdings nicht. Die meisten bleiben in ihren Zimmern. Einige wenige setzen sich auf die Terrasse und trinken gemeinsam. Von Freundschaften könne dabei keine Rede sein, sagt Lampert. "Das sind Zweckbündnisse, keine echten Feundschaften." Manche trinken nach wie vor am liebsten in Gesellschaft.
Entgegen der Vermutung, dass die alkoholabhängigen "Anker"-Bewohner im betrunkenen Zustand lautstarke Zwischenfälle mit den umliegenden Anwohnern provozieren würden, verhalten sich diese recht ruhig. "Wir kommen gut mit unseren Nachbarn aus", stellt Lampert klar. Von regelmäßiger Ruhestörung oder ähnlichem könne keineswegs die Rede sein.
Weltbewegendes können die Sozialarbeiter nicht für ihre Klienten tun: "Wir versuchen die Menschen über den Tag zu bringen." Dazu gehört auch, dass sie auf den Zimmern trinken dürfen - allerdings nur kleine Mengen und ohne umfangreichen Vorrat. Das kontrollieren die Betreuer in gewissem Rahmen. Eine Therapie bekommen die Bewohner nicht. Die meisten haben bereits mehrere Entzugsversuche hinter sich. Ein Arzt und ein Psychiater kümmern sich regelmäßig um die physischen und psychischen Probleme der Klienten.
"Die Menschen erhalten keine Almosen - sie haben ein Recht auf diese Unterstützung"
Für eine therapeutische Behandlung fehlten neben dem Personal vor allem die finanziellen Mittel und eine klare Regelung. Gegen den Willen des Einzelnen könne niemand behandelt beziehungsweise geheilt werden, betont Jürgen Lampert. Das grundlegende Problem bei Alkoholismus sei die hohe Rückfallwahrscheinlichkeit: "Alkohol bleibt im Gedächtnis." Selbst bei trockenen Alkoholikern trinke die Gefahr eines Rückfalls stets mit.
Obwohl der "Anker" etwas von einer Endstation hat, gäbe es für seine Bewohner Hoffnung auf Besserung. "Die meisten Menschen hier wären zu retten, aber es interessiert sich niemand für sie“, äußert Lampert Kritik an der Gesetzgebung, die an den Betroffenen vorbei gehe. Zwar erhielten die Menschen keine Almosen, da sie ein gesetzliches Recht auf diese Leistungen hätten. Dennoch gibt es nach wie vor erhebliche Mängel besonders in der medizinischen Versorgung Alkoholkranker.
Rund 73.000 Menschen sterben jährlich an den Folgen von Alkoholismus
Da viele Alkoholkranke im späten Stadium ihrer Krankheit schwer krank sind, benötigten sie spezielle Pflegeheime, in denen sie angemessen betreut werden. Solche Einrichtungen fehlen allerdings bislang: "Dafür müssen in den nächsten Jahren Konzepte entwickelt werden", fordert Lampert. In Deutschland sterben jährlich rund 73.000 Menschen an den direkten Folgen von Alkoholismus. 23 Menschen waren es, die in den letzten sechs Jahren im "Hotel Anker" verstarben.
Ein zunehmendes Problem sind seit Jahren die jugendlichen Komasäufer. Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden hatte 2006 rund 19.500 junge Menschen zwischen 10 und 20 Jahren gezählt, die wegen akutem Alkoholmißbrauch stationär im Krankenhaus behandelt werden mussten. Seit 2000 hatte sich diese Quote also verdoppelt. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) bezifferte den durchschnittlichen Pro-Kopf-Verbrauch von reinem Alkohol im Jahr 2008 mit 10 Liter, mehr als in anderen europäischen Ländern.