Die Glocken schlagen elf Uhr, es ist so weit: Auf dem Werderplatz warten schon zahlreiche Menschen darauf, dass die Johanniskirche ihre große Eingangstüre öffnet. Denn es ist Vesperkirchen-Zeit - vom 12. Januar bis 9. Februar gibt es hier täglich eine warme Mahlzeit für nur einen Euro. Heute steht Cevapcici mit Reis auf dem Speiseplan.

Wenn Tanja Weis die Vesperkirche besuchen möchte, muss sie allerdings einen Umweg in Kauf nehmen. Die Stufen vor dem Eingang sind mit ihrem Rollstuhl eine zu große Hürde. Stattdessen geht es für sie zunächst einmal um die Kirche herum, denn am Hintereingang ist eine Rampe. Alleine ist auch diese zwar nicht zu bewältigen, doch zum Glück ist ihr Partner Michael Ciesielski dabei.
432 Euro im Monat: "Es ist das reine Überleben"
Beide besuchen die Vesperkirche täglich, beide leben von Hartz IV. Persönliche Schicksalsschläge haben das Paar vor einigen Jahren zusammengeführt: "Wir haben uns in der Reha kennengelernt", erzählt Tanja. "Ohne Michael wäre ich heute verloren, er kauft für mich ein und tut so viel für mich."

Tanja hat früher als Köchin gearbeitet, 33 Jahre lang war sie berufstätig. Heute ist sie 51 Jahre alt. Als ihr damaliger Arbeitgeber Stellen abgebaut hat, wurde sie zuerst arbeitslos, dann folgte die Obdachlosigkeit.
"Ich hätte nie gedacht, dass es so schwer wird"
Sie erkrankte am Norovirus, einer Magen-Darm-Infektion. Bei den meisten Menschen klingt die Krankheit ohne Langzeitfolgen wieder ab, doch bei Tanja nahm sie einen dramatischen Verlauf. "Am Ende musste mein Bein oberhalb des Knies amputiert werden", sagt sie im Gespräch mit ka-news.de.
Auch ihr Partner Michael, der nur ein Jahr jünger ist, war früher berufstätig. Er ist ausgebildeter Speditionskaufmann und Lagerist. Nur vier Tage im Monat hatte er frei, immer an den Sonntagen, dann wurde auch er krank: "Zuerst kam der Bandscheibenvorfall“, erzählt er und zeigt auf die Stelle an seiner Halswirbelsäule. "Dann hatte ich mehrere stumme Herzinfarkte."

Er möchte wieder arbeiten, doch mit seiner Krankheitsgeschichte sei es nicht so einfach, eine Stelle zu finden. "Ich hätte nie gedacht, dass es so schwer wird und mich das System so weit herunterdrückt", sagt er. "Du kommst einfach nicht mehr hoch."
"Ein Lächeln reicht und man vergisst alles andere"
Wenn es nach den Behörden geht, soll nicht nur Michael, sondern auch Tanja weiterhin einen Beruf ausüben. Obwohl sie auf den Rollstuhl angewiesen ist, erhält sie keine Pflegestufe. "Das Amt verlangt, dass ich vier Stunden am Tag arbeite", sagt sie. Aus diesem Grund erhält auch Tanja Hartz IV - keiner der beiden kann Frührente beziehen.

Tanja und Michael sind dankbar, dass es die Vesperkirche gibt. Denn die 432 Euro im Monat reichen zum Leben kaum aus. "Hartz IV bedeutet, Tag für Tag zu kämpfen", erzählt Tanja. "Es ist das reine Überleben, mit Existenzängsten und allem, was dazugehört."
Das Paar gehört quasi zum Inventar der Vesperkirche dazu: Kaum eine Person läuft an den beiden vorbei, ohne sie zu grüßen. "Das besondere hier ist der familiäre Zusammenhalt, hier sind alle gleich", sagt Tanja. "Ein Lächeln reicht schon, dann vergisst man alles andere für einen Moment."
"Das besondere hier ist die Atmosphäre"
Ein paar Tische weiter sitzt Kurt Zwingelberg. Auch bei ihm ist das Geld knapp - gerade einmal 407 Euro Rente erhält der 66-Jährige im Monat. "Zu wenig, um davon zu leben", sagt er. Von der Vesperkirche hat er im vergangenen Jahr im Radio erfahren, seitdem ist er ein oft gesehener Gast.

Beruflich konnte er in seinem ganzen Leben keinen Fuß fassen. "Ich habe in den 1980er-Jahren eine Ausbildung zum Lagerarbeiter gemacht", erzählt er im Gespräch mit ka-news.de. "Danach habe ich einfach keine Stelle gefunden."
In seiner Ausbildung habe er auch den Umgang mit Computern gelernt, die damals noch eine Neuheit waren. Für kurze Zeit hat war er danach bei einem Software-Unternehmen angestellt. Von da an bis zum Eintritt in das Rentenalter war Kurt Zwingelberg arbeitslos. Heute wohnt er in einem Zimmer der Gemeinde Langensteinbach.

Der Weg in die Stadt ist weit und Tickets sind teuer, dennoch kann er täglich kostenlos mit der Bahn zur Johanniskirche fahren. Das ermöglicht ihm sein Schwerbehindertenausweis. "Ich kann schlecht laufen und dann ist da noch das mit meiner Hand", sagt er und deutet auf sein gelähmtes linkes Handgelenk.
Er fühle sich wohl hier in der Vesperkirche, sagt er, nachdem er mit dem Mittagessen fertig ist. Ein Schälchen mit Nachtisch wird ihm angeboten, das lehnt er heute aber ab. Denn die Verpflegung ist nicht der einzige Grund, aus dem er regelmäßig die Karlsruher Vesperkirche besucht: "Das besondere hier ist vor allem die Atmosphäre und der Austausch."
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