Ein junger Mann sitzt in einem abgedunkelten Zimmer. Vor ihm auf dem Computerbildschirm schlägt ein grünes Fabelwesen in Rüstung mit Schwerthieben auf ein anderes, ebenso fantastisch anmutendes Wesen ein. Welcher Tag und welche Uhrzeit gerade ist, weiß der junge Mann nicht. Er kennt nur die Zeitrechnung seines Spiels und den virtuellen Ort, an dem sein sogenannter Avatar - die von ihm gesteuerte elektronische Gestalt - seine Schlacht schlägt.
Solche Szenarien fürchten Eltern, deren Kindern viel Zeit vor dem Rechner verbringen. Sie fürchten, dass sich ihre Kinder einem Suchtmittel aussetzen, dem sie sich über kurz oder lang nicht mehr entziehen können. Doch ab wann man von einem exzessiven Nutzungsverhalten und ob man überhaupt von Sucht sprechen kann, darüber scheiden sich die Geister. Selbst die Wissenschaft ist sich nicht einig, nach welchen Kriterien sie das neue Phänomen der suchtähnlichen Nutzung von Computerspielen untersuchen soll. Einigkeit herrscht dabei, dass die zunehmende Spieldauer zum Problem werden kann.
Im Gegensatz zur Drogen- oder Alkoholsucht gilt die Computerspielsucht bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nicht als eigenständige Krankheit. Wissenschaftler der Universität Augsburg und der Medizinischen Hochschule Hannover haben herausgefunden, dass vielmehr eine Impulskontrollstörung dafür sorge, dass Betroffene außergewöhnlich viel Zeit mit Computerspielen verbringen. Die Spieler seien häufig depressiv und haben soziale Ängste.
Flucht vor den Problemen der Realität
"Kinder und Jugendliche, die weniger Möglichkeiten haben, Erfolgserlebnisse in der realen Welt zu erleben, sind besonders empfänglich für Rollenspiele wie 'World of Warcraft'", weiß auch Petra Müller, stellvertretende Leiterin der Fachstelle Sucht Karlsruhe - Bruchsal. In der virtuellen Welt von "World of Warcraft" wählen Spieler eine Phantasiefigur, die sich stellvertretend für die reale Person in der imaginären Welt "Azeroth" bewegt.
Die Spieler erhalten Belohnungen für gewonnene "Quests" (Aufgaben) und können damit ihre Spielfiguren stärker machen. Durch diese Spielerfolge erhalten sie die Bestätigung, die vielleicht im realen Leben ausbleibt. Damit flüchte der Betroffene vor seinen Problemen, die in der realen Welt auf ihn warten. Je mehr sich ein Spieler in die animierte Welten verliert, desto stärker sei er davon bedroht, seine sozialen Kontakte in der hiesigen Welt sowie Strategien zur Konfliktlösung zu verlieren, erklärt Petra Müller.
20,1 Prozent der Jugendlichen mit exzessivem Spielverhalten
Seit eineinhalb Jahren gibt es das Kompetenzzentrum Mediensucht des Landesverbands für Prävention und Rehabilitation. Die Diplom-Pyschologin berät besonders Eltern, die sich um das Computerspielverhalten Sorgen machen. "Die Jugendlichen sitzen heute viel länger vor dem Rechner, als noch vor zehn Jahren", sagt Müller. "Deshalb kann man keine tägliche Anzahl von Spielstunden nennen, bei denen man von Sucht sprechen kann." Acht Stunden am Tag seien allerdings sehr verdächtig.
In einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen aus dem Jahr 2009 legen insgesamt 20,1 Prozent der rund 45.000 an der Studie teilnehmenden Neuntklässler ein exzessives Spielverhalten an den Tag. Dieses beginnt hier bereits bei 4,5 Stunden täglicher Computerspielnutzung. Jungen sind mit 15,8 Prozent weitaus häufiger betroffen als Mädchen mit 4,3 Prozent, da sie laut Studie besonders eine Präferenz für kampfbetonte und gewalttätige Spiele hätten. So gehören das Shooterspiel "Counterstrike", das Rennspiel "Need for Speed" und das Online-Rollenspiel "World of Warcraft" zu den Favoriten der männlichen Computerspieler.
"Problematisches Konsumverhalten"
Patrik Schönfeldt, Vorsitzender des Verbands für Deutschlands Video- und Computerspieler (VDVC) mit Sitz in Karlsruhe, will nicht von Sucht sprechen. "Exzessive Nutzung" oder "problematisches Konsumverhalten" treffe den Umstand besser. "Wenn jemand sehr viel spielt, muss er ja nicht unbedingt süchtig sein." Dennoch weiß Schönfeldt, dass solches Verhalten durchaus zum Problem werden kann. Jedoch räumt der Verbandschef ein: "Wenn man jemanden als Süchtigen anspricht, schmälert das die Gesprächsbereitschaft", denn der Betroffene fühle sich dann in der Regel vorverurteilt.
Der Bedarf an Gesprächen sowohl mit Eltern als auch mit deren Kindern steigt weiter an, je häufiger die Diskussion um Computerspielsucht ins Bewusstsein der Bevölkerung rückt. Auch der VDVC bietet Beratung für Eltern an - "damit sie besser einschätzen können, was sie ihren Kindern erlauben und was nicht." Fällt es dem Spieler schwer, die virtuelle Welt zu verlassen und soziale Kontakte in der Realität zu unterhalten, bleibt als Maßnahme der vollständige Entzug des Computers.
Die zurückkehrenden Depressionen und sozialen Ängste müsse der Betroffene dann mit einer professionellen Therapie in den Griff bekommen. Dennoch stellt Schönfeldt klar, dass solche Depressionen nach Ansicht des Verbands nicht ursächlich auf das Spielen zurückgehen können. Viel eher sei die beobachtete Exzessiv-Zockerei womöglich der Ausdruck einer bereits bestehenden Störung oder von Problemen, die ihren Ursprung woanders haben.
VDVC: "Computerspielen sollte ein Hobby bleiben"
Spezielle Therapieangebote für süchtig gewordene Spieler gibt es in der Region noch nicht. Lediglich die Beratungsangebote, wie sie die Fachstelle Sucht und der VDVC anbieten, können Hilfe leisten. Das deutschlandweit erste gruppentherapeutische Behandlungskonzept für Spielsucht realisiert die Ambulanz für Spielsucht an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Mainz.
11,5 Millionen Spieler weltweit begaben sich im Januar 2009 regelmäßig in die Welt von "World of Warcraft". Doch nicht alle sind sogleich potentielle Suchtopfer. "Computerspielen ist heutzutage ein natürliches Freizeitverhalten", bemerkt Petra Müller. Wichtig sei nur, dass die Spieler alternative Freizeitbeschäftigungen beibehalten und ihre Lebensperspektiven nicht auf die Spielwelt ausrichten. Auch Patrik Schönfeldt betont: "Computerspielen sollte ein Hobby bleiben."