Wir erleben im Moment eine massive Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in Libyen. Was ist nach Ansicht der Grünen das beste Mittel, die Gewalt zu stoppen?
Erstmal haben wir zu lange gebraucht, bis wir als EU gesprächsfähig waren und Sanktionen verhängt haben gegen das Gaddafi-Regime, das die eigene Bevölkerung über viele Jahrzehnte hinweg ausgebeutet und unterdrückt hat. Es ist peinlich für uns Europäer, das "Bunga-Bunga-Berlusconi" dafür gesorgt hat, dass die EU am Anfang nicht gesprächsfähig war und selbst der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen schneller und besser agiert. Eine weitere Blamage für westliche Glaubwürdigkeit in der muslimischen Welt ist, dass Gaddafi mit unseren europäischen und deutschen Waffen seine Bevölkerung massakriert. So gesehen sind wir dort bereits militärisch involviert.
Wie man der Opposition am besten hilft, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Manche sagen "Flugverbotszone", weil Gaddafi sein Volk auch aus der Luft angreift. Andere weisen zurecht darauf hin, dass das nicht so einfach ist, weil es ein riesiges Land ist und wir direkt in einen Krieg hineingezogen würden. Irak und Afghanistan zeigen, dass es keine schnelle und ungefährliche Lösung gibt, die Bevölkerung vor Despoten zu schützen, erst recht nicht aus der Luft. Was wir auf jeden Fall klar machen müssen ist, dass die Zeit der Zusammenarbeit mit den Diktatoren vorbei sein muss.
Würden die Grünen zustimmen, wenn es um einen Militäreinsatz gegen das Gaddafi-Regime geht?
Ich schließe militärische Gewalt aus humanitären Gründen nicht grundsätzlich aus, aber sie ist immer nur das allerletzte Mittel.
Ist das (Militäreinsatz, Anm. der Redaktion) aber eine Option?
Eine Sache, die man sofort machen kann und wo man keine Zeit verlieren sollte ist, den Flüchtlingen zu helfen. Wir reden über Lampedusa und die Belastung, die Italien dort hat. Die muss man ernst nehmen. Aber im Verhältnis dazu, was an der Grenze zu Tunesien und Ägypten passiert, kann man das nicht vergleichen. Denn dort passiert ein humanitäres Drama. Da möchte ich sehen, dass die EU klar Flagge zeigt. Es ist gut, dass Europa die wirtschaftliche Isolation des Regimes jetzt weiter vorantreibt, indem wir klar machen, dass wir sein Öl nicht abnehmen werden. Wichtig ist, dass Europa sich mit der Afrikanischen Union, der UNO und insbesondere der Arabischen Liga verständigt. Es darf gegenüber den Menschen im Maghreb nicht der Eindruck entstehen, dass es hier um Interessen des sogenannten Westen ginge.
Wären Waffenlieferungen an die Oppositionellen eine Option? Das wurde ja in den USA bereits überlegt.
Das Problem ist: Wie macht man das, wie kommt man an die Personen heran, wen genau unterstützt man da? Und was passiert langfristig mit den Waffen? Die Vergangenheit hat uns gelehrt, dass Waffen weiterverkauft werden und ich will keine weiteren Kalaschnikows in Kinderhänden. Ich rate dazu, dass man die Diskussion jetzt nicht entlang der rechts/links-Grenzen führt, sondern entlang der Frage: Wie schaffen wir es, jahrelanges Blutvergießen zu verhindern und den Eindruck zu vermeiden, dass wir als Westen jetzt militärisch intervenieren, um möglichst schnell Ruhe zu haben und weiter unser Öl beziehen zu können. Es muss klar sein: Das ist ein Widerstand der Menschen vor Ort. Wir können höchstens unterstützen. Die Veränderung erfolgt durch die Opposition.
Noch eine Frage zu der Nahost-Region. Sie haben im Spiegel Anfang Februar in einem Gastbeitrag geschrieben: "Und wenn Demokratie eine Abbildung aller relevanten Strömungen und Richtungen in einem Staat bedeutet, dann ist völlig klar, dass mehr Demokratie in der muslimischen Welt mit einer Stärkung des religiösen und konservativen Elements einhergeht." (Zitat: Özdemir, Cem: "Wer Arabiens Demokraten wachrütteln kann"; Spiegel Online; 6. Februar 2011) Gilt das auch für Kräfte, die die Abschaffung der demokratischen Ordnung zum Ziel haben?
Das gilt für die natürlich ausdrücklich nicht. Aber die gibt es auch. Das Phänomen war ja, dass viele eben nicht für Islamismus auf die Straße gegangen sind und nicht amerikanische oder israelische Fahnen verbrannt haben. Die Mehrheit ging auf die Straße, weil sie ähnliche Träume wie wir auch haben - von einer besseren Welt für ihre Kinder, von Wohlstand und Rechtsstaatlichkeit. Das sind zutiefst legitime Anliegen.
Natürlich heißt das Ende autoritärer Regime, dass alles, was bislang unterdrückt war, nach oben kommt. Dazu gehören in Ägypten die Muslimbrüder, aber eben auch liberale oder feministische Kräfte. Dass muss sich jetzt neu ordnen, Parteien müssen sich bilden, die es bislang nicht geben durfte. Wer sich da durchsetzt und wie, dass wissen wir nicht. Aber wir können beim Aufbau von Rechtsstaatlichkeit helfen. Da hat Europa viel Erfahrung.
Es ist klar, dass da konservativ-religiöse Elemente auch dazu gehören, genauso wie säkulare. Unser Interesse muss es sein, dass diese einen ähnlichen Weg gehen, wie bei uns die Konservativen. Das, was bei uns die CDU oder CSU ist, könnte dort eine IDU oder ISU sein - eine "Islamisch Demokratische oder Islamisch Soziale Union".
Was kann die Türkei von Schwaben lernen?
Viel. Den Erfindergeist. Was sie vielleicht nicht lernen sollte: Dass eine Partei 57 oder 58 Jahre lang regiert. Das würde der Türkei nicht gut tun. Das tut keinem Land gut.
Gibt es auch etwas, das die Türkei von Baden lernen kann?
Von Baden kann sie den Freiheitsgeist und die Freiheitsliebe lernen. Das ist nicht unbedingt etwas, das es in der deutschen Geschichte an allen Stellen zu finden gab. Dazu bedurfte es eben eines Heckers (badischer Revolutionär 1811-1881, Anm. der Redaktion) und anderer, die aus diesem schönen Teil unseres Bundeslandes kommen. Wenn ich Delegationen aus der Türkei Empfehlungen zum Besichtigen geben müsste, dann fallen mir sehr viele Museen im badischen Teil ein. Zum Beispiel das ZKM hier für das 21. Jahrhundert. Wenn man den Blick zurück wagt, fällt mir das Freiheitsmuseum in Rastatt/Baden-Baden ein. Das steht für 1848 (die so genannte "badische Revolution", Anm. der Redaktion), für die schönen Traditionen der deutschen Geschichte.
Eine Frage zum Schluss: Tanken Sie E10?
Wir fahren einen Kleinwagen, da tanken wir sowieso nicht häufig. Ich tanke selbst kein E10. Ich kämpfe dafür, dass der Verkehr seinen Beitrag zur CO2-Einsparung auf eine klügere Weise leistet - etwa durch Elektromobile, Tempolimits oder Hybrids. Aber nicht durch den Unsinn E10.
Das Interview führte Daniel Cornicius