Nach Ansicht der Richter sei die Sendung ohnehin schon abgedreht, den Kindern könne man deshalb sowieso nicht mehr helfen. Was die mögliche Wirkung der Sendung betreffe, sei die Landesmedienanstalt zuständig. In «Erwachsen auf Probe» leihen Eltern ihre Babys und Kleinkinder vorübergehend an Teenager aus. So groß war die Entrüstung schon lange nicht mehr. Als bekannt wurde, dass RTL eine Fernsehsendung produziert, in der Teenager mit geliehenen Babys Familie spielen dürfen, brach ein Sturm der Empörung los.
Das Original kommt aus England
Die Vorwürfe gegen die neue RTL Fernsehsendung gipfelten in Begriffen wie „Kindesmissbrauch“ und „Prostitution“. Familienministerin Ursula von der Leyen kritisiert, „Erwachsen auf Probe“ setze auf Negativdarstellung und Effekthascherei. „Dem Zuschauer wird suggeriert: Der Alltag mit Kleinkindern ist Stress pur, bedeutet Konfrontation, schürt Konflikte.“ Die Mahnung der Ministerin ist angebracht: Jungen Menschen, die sich „Erwachsen auf Probe“ anschauen, wird die Lust aufs Kinderkriegen gründlich vergehen; und genau dies ist auch der Sinn der Sache.
Man muss allerdings wissen, dass die Reihe im Original ein Format der britischen BBC ist. Der öffentlich-rechtliche Sender genießt einen hervorragenden Ruf und ist im Gegensatz zu hiesigen kommerziellen Programmen über jeden Zweifel erhaben, mit billigen Skandalen Aufmerksamkeit erregen zu wollen. Mit „The Baby Borrowers“ (die Baby-Borger) hat die BBC das in Großbritannien weit verbreitete Phänomen der Teenager-Schwangerschaft aufgegriffen. Die Reihe wird seither in Schulen genutzt. Auch hierzulande bekommen Jugendliche, die in einem problematischen sozialen Umfeld aufgewachsen sind, oft viel zu früh eigene Kinder. Einige junge Frauen betrachten ein Dasein als Mutter offenbar als erstrebenswerte Alternative zu einer ansonsten perspektivlosen Hartz-IV-Zukunft ohne Arbeitsplatz.
"Ein skandalöses Experiment"
Allerdings bei weitem nicht so oft wie in Großbritannien; die Briten sind in dieser Hinsicht führend in Europa, hierzulande sind die Zahlen niedriger. Das BBC-Format ist mit größtmöglicher Sorgfalt entstanden. Auch RTL versichert, man habe seine Verantwortung wahrgenommen und sei „mit der Situation in den Familien und Probefamilien zu jeder Zeit umsichtig und behutsam umgegangen.“ Trotzdem hält Norbert Neuß (Universität Gießen), Vorsitzender der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK), die RTL-Produktion „für ein skandalöses Experiment. Kinder in dem Alter sind auf eine kontinuierliche, elterliche Bindung angewiesen. Dies aus Gründen der Unterhaltung oder mit fadenscheinigen pädagogischen Argumenten aufs Spiel zu setzen, ist grob fahrlässig. Babys sind keine Versuchskaninchen.“
Neuß bezweifelt, dass RTL an einem seriösen Umgang mit dem Thema gelegen sei. Er vermutet vielmehr, „dass der ‚stressige Alltag' mit einem Baby durch die Inszenierung nochmals gesteigert wird. “ Neben der Gefahr für die Säuglinge, der Inszenierung des Alltags und der möglichen Bloßstellung von Jugendlichen erscheint Neuß noch ein Aspekt bedenkenswert: „Mit einer solchen Sendung wird ein fatales Signal im Hinblick auf eine humane Gesellschaft und eine verantwortungsvolle Medienkultur gegeben.“ Auch Bernd Schorb, Professor für Medienpädagogik am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig und Vorstandsvorsitzender des JFF-Instituts für Medienpädagogik in Forschung und Praxis (München), hält das Experiment für „pädagogisch fragwürdig“.
Die Teenagereltern sind zum Teil vorbestraft
Die Jugendlichen hätten gar keine Zeit, eine emotionale Bindung zu den Kindern aufzubauen: „Sie lernen vielleicht ein paar Handgriffe, aber kein Sozialverhalten.“ Tatsächlich wirken die Bilder abschreckend. Das erklärt die harsche Reaktion von Ursula von der Leyen: Sie sagt, „Erwachsen auf Probe“ könne bei jungen Menschen nachhaltig jeden Kinderwunsch im Keim ersticken. Die teilnehmenden Teenager-Pärchen verbringen jeweils eine gewisse Zeit mit Babys, Kleinkindern und Schulkindern. Gerade die Tage mit den Säuglingen sind Stress pur. Zudem hat RTL mit gewohnter Zielsicherheit Teilnehmer ausgewählt, die polarisieren. Einer der Jungs, Mario (18), ist laut einer Information der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) bereits mehrfach wegen Raub, Diebstahl und Körperverletzung angezeigt worden und macht den Eindruck, als gehöre er eher in die RTL-Reihe „Teenager außer Kontrolle“; hier werden verhaltensauffällige Jugendliche in einem Camp einer Therapie unterzogen.
Völlig untalentiert als Vater ist auch Elvir (17), ein egozentrischer Schönling. Beide Jungs sind den Herausforderungen der Kindererziehung in keiner Weise gewachsen. Für die Leihkinder bestand allerdings nie eine Gefahr, da die Teilnehmer permanent beaufsichtigt werden. Die Eltern verfolgen die Erziehungsversuche über einen Monitor aus einem Nachbarhaus. Als Elvir „sein“ Baby für einen kurzen Moment auf dem Wickeltisch allein lässt, ist sofort eine Erzieherin zur Stelle. Den Eltern reicht es allerdings: Sie nehmen ihm das Kind weg. Die Jugendschützer der FSF stärkt im Übrigen die Position von RTL. In der Prüfentscheidung zu „Erwachsen auf Probe“ heißt es, das Format verfolge „insgesamt durchaus eine pädagogische Absicht“. Ängstigen kann auch der Umstand, dass Kinder von den Eltern zu Experimenten zur Verfügung gestellt werden. Mittlerweile ist gegen die Eltern, die für ihre Kinder eine dreistellige Leihgebühr bekommen haben, Strafanzeige wegen „möglicher Körperverletzung und Misshandlung Schutzbefohlener“ gestellt worden.